Kerstin Klauser, 1,4 Millionen Menschen in der Schweiz sind armutsbetroffen oder -gefährdet. Warum sehen wir sie trotzdem nicht?
Armut ist eine stille Katastrophe. Sie geschieht leise, bleibt oft unsichtbar, trifft Betroffene jedoch umso härter. Vorurteile, Scham und sozialer Ausschluss führen dazu, dass die breite Bevölkerung Armut häufig nicht wahrnimmt. Viele Betroffene verzichten aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung darauf, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, obwohl sie dazu berechtigt wären. Auch haben wir oftmals verzerrte Bilder von Armut und erwarten beispielsweise, dass Armut in der Schweiz genauso sichtbar ist wie in ärmeren Ländern – was häufig nicht der Fall ist.
Was war der konkrete Auslöser für das Migros-Kulturprozent, eine Sensibilisierungskampagne zum Thema Armut zu lancieren?
Mit der Sensibilisierungskampagne «Im Minus» wollen wir aufzeigen, dass Armut auch in einem reichen Land wie der Schweiz existiert – und dass Vorurteile die Betroffenen weiter isolieren. Häufig wird Armut auf Zahlen und Statistiken reduziert, doch diese zeigen weder die Gesichter noch die Geschichten hinter den Zahlen. Genau dies wollen wir mit dieser Kampagne tun.
Wie passt diese gesellschaftspolitische Positionierung zur Rolle des Migros-Kulturprozents als Kulturförderin?
Das Migros-Kulturprozent setzt sich seit jeher für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ein – nicht nur durch die Förderung von Kultur, sondern auch durch die Förderung von sozialem Engagement. Soziale Ungleichheit, wie sie die über 16 Prozent armutsgefährdeten oder -betroffenen Menschen in der Schweiz erleben, gefährdet diesen Zusammenhalt.
Welche Zielgruppen wollen Sie mit der Kampagne primär erreichen?
Die Zielgruppe dieser Sensibilisierungskampagne ist in erster Linie eine breite, nicht betroffene Öffentlichkeit. Die Kampagne soll zum einen die Realität von Armut in der Schweiz sichtbar machen, zum anderen einen gesellschaftlichen Dialog anstossen. Denn nur durch Verständnis und Solidarität können wir gemeinsam daran arbeiten, Vorurteile abzubauen und Betroffene zu unterstützen.
Wie entstand die Idee, die Budgets buchstäblich in den Vordergrund zu stellen und die Gesichter zu verdecken?
Zahlen und Rechnungen spielen beim Thema Armut eine grosse Rolle: Armutsstatistiken werden in Zahlen vermittelt, aber auch die Armutsbetroffenen sind immer damit konfrontiert – im Haushaltsbudget, mit Schulden, mit Rechnungen und Mahngebühren. Die Budgetzettel zeigen auf den ersten Blick, wie prekär die finanzielle Situation der Betroffenen ist, und machen die Herausforderungen nachvollziehbar. Erst mit den individuellen Geschichten hinter den Zahlen wird klar, wie komplex die Lebensrealität der Betroffenen ist, und es wird Verständnis geschaffen.
War es eine bewusste Entscheidung, auf Mitleid zu verzichten und stattdessen die strukturellen Aspekte zu betonen?
Ja, denn in Mitleid steckt etwas Trennendes. Mitleid schafft eine Hierarchie zwischen der Person, die bemitleidet wird, und der Person, die Mitleid empfindet. Die Kampagne soll Empathie für die Betroffenen schaffen. Sie soll zeigen, dass Armut uns alle angeht und jeder betroffen sein kann, sei es zum Beispiel infolge eines Jobverlusts, einer Krankheit oder einer Scheidung.
Wie haben Sie sichergestellt, dass die stellvertretende Darstellung authentisch wirkt, ohne die realen Betroffenen zu instrumentalisieren?
In dieser Frage arbeiteten wir eng mit Caritas Aargau und Zürich, Betroffenen und Betroffenenorganisationen wie zum Beispiel ATD Vierte Welt zusammen. Caritas Zürich hat uns mit ihrer Expertise dabei unterstützt, die Geschichten der Betroffenen respektvoll und authentisch darzustellen.
Wie lief die Kooperation mit Caritas Zürich ab – nach welchen Kriterien wurden die Fallbeispiele ausgewählt?
Wir sind in der Planungsphase der Kampagne auf Caritas Zürich zugegangen. Es war uns wichtig, exemplarisch drei möglichst typische Fälle auszuwählen, die in verschiedenen Sprachregionen relevant sind. Caritas Zürich hat uns dabei mit ihrer Erfahrung aus der Sozialberatung unterstützt.
«Ursprünglich hatten wir den Wunsch, realen Betroffenen einen Platz in unserer Kampagne zu geben»
Sie arbeiten mit Laiendarstellern, aber echten Budgets. Wie schwierig war es, Menschen zu finden, die bereit waren, ihre Budgets zu teilen?
Ursprünglich hatten wir den Wunsch, realen Betroffenen einen Platz in unserer Kampagne zu geben. Das Thema Armut ist mit vielen Vorurteilen und Schamgefühlen behaftet. An erster Stelle stand für uns, die Kampagne sorgfältig und verantwortungsvoll umzusetzen. Im Austausch mit mehreren Partner- und Betroffenenorganisationen haben wir uns deshalb schliesslich entschieden, die Kampagne mit Stellvertretern umzusetzen.
Mit welchen Reaktionen rechnen Sie – auch kritischen?
Wir wünschen uns, dass unsere Sensibilisierungskampagne zum Nachdenken und zu einem Diskurs anregt. Das Ansprechen gesellschaftlicher Missstände kann natürlich auch kritische Reaktionen hervorrufen, insbesondere weil das Thema Armut oft tabuisiert wird. Wir sind jedoch überzeugt, dass unser Ansatz eine gute Balance zwischen dem Aufzeigen der Problematik und der Einladung zu einem solidarischen Dialog schafft.
Wie messen Sie den Erfolg einer solchen Sensibilisierungskampagne?
Einerseits sicherlich durch faktische Ergebnisse wie die Anzahl der Aufrufe unserer Kampagnenseite oder die Erreichung unserer KPIs in der Mediaplanung. Darüber hinaus ist für uns auch die Resonanz in der Zusammenarbeit mit Vereinen, Organisationen und bei Dialogveranstaltungen wichtig. Beispielsweise weisen wir auf Veranstaltungen unserer Partnerorganisation ATD Vierte Welt hin, bei denen die Kampagne eine Rolle spielt. Der Erfolg zeigt sich letztlich daran, ob es gelingt, gesellschaftliche Diskussionen anzustossen und Vorurteile abzubauen.
«Das Thema Armut bleibt ein Schwerpunkt des Migros-Kulturprozents über die Kampagne hinaus»
Was soll nach der Kampagne passieren – gibt es konkrete Folgeaktivitäten?
Das Thema Armut bleibt ein Schwerpunkt des Migros-Kulturprozents über die Kampagne hinaus. Wir planen weitere thematische Ausschreibungen und den Ausbau von Kooperationspartnerschaften, um einen bewussteren Umgang mit Armut zu fördern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Sehen Sie das Migros-Kulturprozent künftig vermehrt in der Rolle einer gesellschaftspolitischen Akteurin?
Die Sensibilisierung für gesellschaftliche Themen ist seit Längerem ein Wirkungsziel des Migros-Kulturprozents. Auch über verschiedene Aktivitäten wie Veranstaltungen, Netzwerkanlässe und Förderprojekte leisten wir dazu einen Beitrag. Die gesellschaftspolitische Dimension ist seit jeher ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit.
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06.10.2025 21:26 Uhr
06.10.2025 11:08 Uhr

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