08.03.2017

Gerd Leonhard

«Meine Gegenwart ist die Zukunft meiner Kunden»

Das heutige Onlinemarketing wird laut Gerd Leonhard bald schon auf Ablehnung stossen. Welche Marketing-Jobs gibt es aufgrund der Automatisierung bald nicht mehr? persoenlich.com unterhielt sich am Rande des Marketing Tags 17 vom Dienstag in Luzern mit dem Medienfuturisten.
Gerd Leonhard: «Meine Gegenwart ist die Zukunft meiner Kunden»
Am Marketing Tag 17: Der Futurist Gerd Leonhard referierte über die Zukunft des Marketings. (Bild: Jerry Gross Fotostudio AG).
von Tim Frei

Herr Leonhard, Sie nennen sich Futurist, aber Sie verstehen sich nicht als Zukunftsforscher. Was machen Sie genau?
Ich beschäftige mich mit der nahen Zukunft, da ist der Begriff «Futurist» naheliegend. Als Zukunftsforscher verstehe ich mich jedoch nicht, da ich kein Akademiker bin. Vielmehr beschäftige ich mich mit den vorhandenen praktischen Dingen. Zudem interessiere ich mich nicht dafür, was in 20 Jahren ist, sondern arbeite im Fünfjahreshorizont.

Sie setzen sich also mit der Zeitspanne von fünf Jahren auseinander?
Ja. Die fünf Jahre sind aber jetzt schon hier, es handelt sich um die Gegenwart. Meine Gegenwart ist also die Zukunft meiner Kunden. Für mich ist alles schon da, viele Leute sehen das schlichtweg noch nicht, da sie nicht die Zeit haben, sich damit auseinanderzusetzen. 

In Ihrem neuen Buch «Technology vs. Humanity»* schreiben Sie, dass sich die Menschheit in den kommenden 20 Jahren stärker verändern werde als in den 30 Jahren zuvor. Ist das nicht masslos übertrieben?
Wahrscheinlich ist das eher untertrieben. Es gab zwar in der Vergangenheit grosse Umwälzungen wie die industrielle Revolution, die Dampfmaschine oder das Internet. Jetzt sind wir aber am Punkt, wo wir Menschen uns selber ändern können. So können wir bald zum Supermensch werden, indem wir uns mit dem Internet vernetzen. Oder wir können die Gene verändern oder einen Roboter in unseren Blutkreislauf einschleusen. Neu ist, dass sich die Technologie von alleine weiterentwickeln kann und dies exponentiell. Dinge, die vorher Science-Fiction waren, sind nun Realität – wie beispielsweise selbstfahrende Autos.

Eine weitere These aus Ihrem Buch lautet, dass wir die Technologie umarmen, aber nicht zu ihr werden sollten. Was meinen Sie damit?
Es ist die Versuchung, die Technologie dazu zu benutzen, um uns selber zu verändern, ohne die Arbeit selber zu erledigen. Es geht also um das Outsourcen von Denken – zum Beispiel das Dating über Apps wie Tinder oder Urteile durch künstlich intelligente Richter.  Wenn wir nun die Technologie so weit nutzen, ersetzen wir unser Tun mit ihr. Die Folge ist, dass eine Welt entsteht, in der die Effizienz über alles entscheidet. 

Die Gefahr ist also, dass wir die Kontrolle verlieren?
Die Gefahr ist weniger, dass wir von Robotern überrannt oder ersetzt werden. Vielmehr geht es darum, dass wir uns in unserer Lebensweise zu sehr an die Technologie angleichen. Im Endeffekt besteht die Problematik darin, dass wir zu Maschinen werden. So wird es Personen geben, die beispielsweise erwägen, ihre gesunden Beine amputieren zu lassen, um sich High-Tech Prothesen einzubauen, mit denen sie dann vielleicht besser klettern können.

Diese Entwicklungen werden wohl auch das Marketing massgeblich verändern. Was sind die zentralen Dinge, die Sie dabei ausmachen?
Ein Grossteil der Ausgaben des Marketings, der Werbung und von PR werden für Dinge verwendet, die viel Krach aber wenig wirklich Sinn machen, also eigentlich nur Aufmerksamkeit erzeugen sollen. Dies stösst in einer vernetzten Welt – und speziell bei der Generation Y – aber vermehrt auf Ablehnung – diesen «Unterbrecher-Ansatz» werden sich die Marketer nicht mehr lange leisten können. Das «traditionelle» Internet-Marketing, wie wir es heute noch kennen, wird in den nächsten fünf bis sieben Jahren komplett verschwinden. Denn wir werden in der nahen Zukunft mit «der intelligenten Wolke» wie mit einem Menschen reden können (Amazon Echo, Google Home etc.). Die Frage ist dann, wie unsere Werbung eigentlich gewollt sein kann. Das wird die zukünftige Herausforderung des Marketings – zusammen mit den Fragen des Daten- und Menschenschutzes. 

Als zentrale Entwicklung erwähnen Sie in diesem Zusammenhang immer wieder die Künstliche Intelligenz. Diese soll relativ genau voraussagen können, was der Kunde will und wie viel er kauft.
Die Basis dafür ist die Unmenge an Daten, auf welche die Künstliche Intelligenz zurückgreifen kann. Daraus kann sie dann alles Mögliche machen. Diesbezüglich stehen wir zwar noch am Anfang, doch das wird sich exponentiell verändern.

Im deutschen Magazin «Der Spiegel» (Nr. 6 dieses Jahres) wurde die Künstliche Intelligenz als Hype abgetan und deren Potentiale als übertrieben dargestellt. Was entgegnen Sie solchen Kritikern?
Den Hype um die Künstliche Intelligenz gab es tatsächlich schon lange, neu ist aber die viel stärkere Rechenleistung und die Geschwindigkeit der Computer. Zudem kann die Künstliche Intelligenz nun auf eine Unmenge an Daten zurückgreifen. Hinzu kommt das Deep Learning: Nachdem wir die Maschine programmiert haben, entwickelt sie sich durch die Unmenge an Daten, mit denen sie gefüttert wird, selber weiter und erstellt neue Muster. Wir können es uns nicht leisten, dies wieder als Hype zu bezeichnen.

Nochmals: Es gibt aber zahlreiche Beispiele von Usern, die sich über eine spezifische Werbung aufregen, die sie gar nicht anspricht. Die Künstliche Intelligenz sagt also offenbar falsche Dinge voraus?
Sie steckt noch in den Kinderschuhen, aber das wird sich exponentiell und eben nicht linear weiterentwickeln. Auch bei selbstfahrenden Autos sagte man damals, dass es jetzt noch nicht klappt und wie dies dann in der Zukunft funktionieren sollte. Dass eine Maschine unsere Sprache wirklich perfekt verstehen und auch übersetzen kann, wird beispielsweise in weniger als zwei Jahren möglich sein. 

Sie sagen auch voraus, dass in den nächsten sieben bis acht Jahren zahlreiche Jobs im Marketing wegfallen werden. Welche?
Alle Jobs, die einen Routinecharakter haben, werden automatisiert.

Wir müssen unsere Kinder also davor warnen, keine solchen repetitiven Jobs zu erlernen?
Ja. Viele unserer Schulen bringen unseren Kindern genau das bei, was sie in Zukunft ganz bestimmt nicht mehr brauchen werden – also roboterhafte Aufgaben. Wenn sie heute noch einen MBA machen wollen, lernen sie leider zum Grossteil das, was gestern vielleicht noch gut war, aber morgen ganz bestimmt irrelevant ist. 70 Prozent aller neuen Jobs der nächsten zehn Jahre sind noch gar nicht erfunden.

Die ständige Abhängigkeit vom Smartphone nimmt immer mehr zu. Nehmen Sie selber jeweils aktiv ein Timeout vom diesem Gerät?
Ja, regelmässig. Denn man muss sich eigene Grenzen setzen. So haben wir beispielsweise in unserer Familie das Smartphone aus dem Schlafzimmer verbannt. Zudem nehmen wir es nicht zum Nachtessen mit. In Asien hingegen ist dies normal, jeder macht das.


*Buch «Technology vs. Humanity»

TVH book cover TOP 2 book tvh tech-vs-human-book-300x227

Der Futurist Gerd Leonhard setzt sich mit dem Verhältnis von Mensch und Technologie der nächsten fünf Jahre auseinander. Diesen Juni soll das Buch auch in deutscher Sprache erscheinen. Mehr Informationen erhalten Sie hier.



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240426