05.08.2023

Hinter den Kulissen

Er verabschiedete sich vom Boulevard in den Newsroom

Als Blick-Reporter schrieb Sandro Inguscio um die 150 Artikel pro Jahr; oft harter Boulevard, wie ihn die Ringier-Zeitung heute nicht mehr bringt. Inzwischen dirigiert er die Berichterstattung im Newsroom. Dass er nicht mehr schreibt, kommt ihm nicht ungelegen.
Hinter den Kulissen: Er verabschiedete sich vom Boulevard in den Newsroom
«Wenn du Gas gibst, geht immer eine Tür auf»: Sandro Inguscio, Chefredaktor Blick.ch und Blick TV. (Bild: zVg)

Für ein Porträt auf persoenlich.com mache er eine Ausnahme, erklärt Sandro Inguscio zu Beginn des Gesprächs im Café «The Studio» im Ringier Pressehaus. «Ich dränge mich sonst nicht in den Vordergrund», sagt der Chefredaktor von Blick.ch und Blick TV. Tatsächlich taucht sein Name seit ein paar Jahren kaum mehr in der Öffentlichkeit auf. Und wenn, dann im Zusammenhang mit Beförderungen, aber nicht mehr als Autorenzeile im Blick. Das war einmal anders. Ab 2010 gehörte er zu den Vielschreibern der Blick-Redaktion. Bis zu 150 Artikel veröffentlichte er pro Jahr im Boulevard-Blatt.

Der Output reduzierte sich ein erstes Mal, als er im Frühjahr 2017 zum Blattmacher Online und nur Wochen darauf zum Nachrichtenchef der Blick-Gruppe befördert wurde. Seit er vor zwei Jahren noch eine Stufe höher aufgestiegen ist und im Range eines Chefredaktors das Online- und Videoangebot der Blick-Gruppe verantwortet, schreibt er praktisch nicht mehr. 2023 stand sein Name erst ein einziges Mal unter einem Artikel.

«Wenn du Gas gibst, geht immer irgendeine Tür auf.»

Sandro Inguscio, 37 Jahre alt, aufgewachsen in Niederwil im Freiamt und weiterhin wohnhaft im Kanton Aargau, verheiratet mit einer US-Amerikanerin, Vater einer kleinen Tochter, seit 13 Jahren bei Blick, zuvor das Handwerk bei der Lokalzeitung Wohler Anzeiger und an der Journalistenschule MAZ gelernt.

Dass Sandro Inguscio nun da steht, wo er steht, sieht er im Rückblick als logische Entwicklung. «Wenn du Gas gibst, geht immer irgendeine Tür auf.» Das war schon ganz am Anfang so, als er ohne journalistische Erfahrung beim Wohler Anzeiger die Chance erhält, in den Beruf einzusteigen.

Dieser Schlüsselmoment prägt ihn bis heute und die eigene Erfahrung dient ihm auch bei der Personalauswahl als Massstab. «Wenn mir jemand im Vorstellungsgespräch zu verstehen gibt, ich bin hungrig und verspreche immer Gas zu geben, dann kriegt diese Person die Stelle und nicht jemand mit einem perfekten Lebenslauf.» 

Beim Interview für dieses Porträt trägt der Chefredaktor gewordene Reporter einen leichten Sommeranzug, darunter kein Hemd, sondern den Temperaturen angemessen ein T-Shirt. Mit dem nach hinten frisierten Haar, dem dunklen Bart, sichtbaren Tattoos am Arm und einer Markenuhr am Handgelenk entspricht er optisch dem Klischee des Aufsteigers, der es zu etwas gebracht hat. So falsch ist das Bild nicht.

«Ich will jeden Tag dazulernen, jeden Tag besser werden.»

Das Arbeitsethos, der Traum vom Aufstieg, der Glaube daran, dass alles möglich ist, wenn man nur hart genug arbeitet: Das verbindet Sandro mit seinem Vater und dem Nonno aus Apulien, der das Glück in der fernen Schweiz gesucht und gefunden hatte. «Ich will jeden Tag dazulernen, jeden Tag besser werden», sagt Sandro Inguscio. Wo er sich seinen Lebenstraum erfüllen wollte, war für ihn von klein auf klar. «Beim Blick zu arbeiten, war mein Traum, seit ich 14 Jahre alt war.»

Der Blick, wie ihn der Aargauer Teenager kannte, stand für klassischen Boulevard. Sport und Verbrechen, zwei tragende Pfeiler des Genres, waren später die beiden Ressorts, wo Sandro Inguscio seine Sporen abverdiente. Seine weit über tausend Artikel, die er für Blick schrieb, trugen Titel wie «Ivan ging ab wie eine Rakitic», «King Roger bei Prinz Charles», «Blöder Einbrecher am Tatort fast verblutet» und «Tierhasser schoss Büsi Bein weg».

Zu Hochform lief er als Reporter auf, wenn beides zusammenkam, Sport und Verbrechen in einem, etwa bei einer grossen Reportage 2010 über die privaten Delta-Security, die in Schweizer Fussballstadien für Ruhe und Ordnung sorgen sollen.

Dass Sandro Inguscio heut nicht mehr von Tatort zu Tatort hetzt und in den Katakomben von Fussballstadien nach Storys sucht, sondern im Newsroom koordiniert und organisiert, liegt an seinem Ehrgeiz. Der Drang weiterzukommen, die Hierarchiestufen hochzusteigen, brachte ihn da hin, wo er heute steht.

«Mich hat die Recherche immer mehr interessiert als das Schreiben.»

Was zudem auffällt: Inguscios Abschied aus der Sport- und Crime-Berichterstattung fiel zeitlich zusammen mit dem von oben verordneten Abschied vom Boulevard. Ringier-CEO Marc Walder und Blick-Gruppe-Chefin Ladina Heimgartner definieren die Blick-Publizistik heute als populär und nah bei den Leuten, aber nicht mehr als Boulevard. Ein Reporter von der Sorte eines jungen Inguscio würde heute nicht mehr ins Profil der Blick-Redaktion passen.

Dass er in seiner aktuellen Funktion kaum mehr schreibt, kommt ihm nicht ungelegen. «Mich hat eigentlich immer mehr interessiert, wie ich eine Strategie für die Recherche zurechtlegen kann», sagt Sandro Inguscio. Hatte er die Informationen einmal beisammen, musste halt noch der Artikel geschrieben werden. Das war für ihn mehr Pflicht als Kür.

Sandro Inguscio, wie gross war die Befriedigung, den eigenen Namen in der Zeitung zu lesen?
Ich war immer unglaublich stolz, dass mein Name im Blick steht. Bis zu dem Punkt, als mir nach Jahren jemand aus dem Bekanntenkreis sagte: Ich habe noch gar nie einen Artikel von dir im Blick gelesen…

…weil der durchschnittliche Leser die Autorenzeile nicht wahrnimmt.
Genau. Das hat mein Rollenverständnis geschärft. Ich habe gemerkt, dass es gar nicht um mich geht, sondern um den Blick als Marke. Ich darf den Blick besser machen – und nicht umgekehrt.

Mit dieser Einsicht fiel es Ihnen dann auch leichter, nicht mehr zu schreiben?
Wenn ich als Chefredaktor wie schon zuvor als Nachrichtenchef dazu beitragen kann, die Abläufe zu perfektionieren, Probleme vorab zu erkennen und dann zu lösen, gewinnt die Marke mehr, als wenn ich selbst noch ein paar Artikel schreiben würde. Und es ist ja nicht so, dass ich gar nicht mehr schreibe.

Wann greifen Sie noch in die Tasten?
Es gibt zwei Themen, zu denen ich mich in all den Jahren immer pointiert geäussert habe und die mir ein Anliegen sind: Fangewalt und Autoraser. Dazu schreibe ich auch heute noch, weil es mir leichtfällt.

Aber Sie sind grundsätzlich schon froh, nicht mehr schreiben zu müssen?
(denkt lange nach) Ich glaube schon.

Eigentlich ist es paradox: Ein Chefredaktor eines Medientitels, der von Köpfen lebt, über Köpfe berichtet, und auch das eigene Personal gerne inszeniert, bleibt gegen aussen unsichtbar. Sandro Inguscio versteht sich als Architekt und Antreiber im Hintergrund. In seinen ersten Jahren als Chefredaktor Blick.ch und Blick TV agierte er vor allem als Change-Manager. Er tüftelte an idealen Produktionsabläufen, damit die Redaktion die richtigen Inhalte im richtigen Moment auf dem richtigen Kanal ausspielt. «Geschichten gibt es genug, irgendjemand muss sich aber darum kümmern, dass sie zu den Leuten finden. Das mache ich», sagt Sandro Inguscio.

Seine jahrelange Erfahrung als Reporter kommt ihm dabei zugute. Er weiss genau, wovon er spricht. Darum kann er auch glaubwürdig seine Leute anweisen und anleiten, wie sie eine Geschichte umzusetzen hätten. «Ich verlange viel, aber ich verlange nichts, was ich nicht auch selbst gemacht habe», sagt Sandro Inguscio.

«Ich will nahbar sein, ich will authentisch sein.»

Dabei scheint er den richtigen Ton zu treffen. Blick-Kollegen, mit denen persoenlich.com gesprochen hat, die nicht unmittelbar mit ihm zu tun haben und ihn darum aus etwas grösserer Distanz beobachten können, beschreiben ihn als «mitreissend und dynamisch». Eine Art, die offenbar ankommt. Auch deshalb, weil er als Chef greifbar bleibt. «Ich will nahbar sein, ich will authentisch sein. Darum sitze ich auch jeden Tag im Newsroom und bringe mich an den Sitzungen ein», sagt Inguscio zu einem Rollenverständnis als Chefredaktor.

Für die Zufriedenheit der Untergebenen spricht auch die geringe Personalfluktuation in seinen Abteilungen. Er sei ein Fan des Blick mit einer schier kindlichen Begeisterung für das Produkt und stehe seinem Arbeitgeber bedingungslos loyal gegenüber.

Fest steht: Mit der Übernahme des doppelten Chefredaktorenpostens hat sich Sandro Inguscio eine Herkules-Aufgabe aufgebürdet, von der intern manche meinen, dass sie eigentlich fast nicht zu bewältigen sei.

Kein Ding der Unmöglichkeit, findet Inguscio. Auch mit der Familie lasse sich diese Belastung vereinbaren. Er arbeite nun noch besser organisiert, noch fokussierter, noch effizienter. «Als ich kein Kind hatte, gab es für mich keinen Grund, abends nach Hause zu gehen. So habe ich Zeit verplempert», sagt Sandro Inguscio. Heute wisse er genau, wann er nach Hause gehe. Das sei auch deshalb möglich, weil er seinen Leuten vertraue und nicht mehr alles selbst mache. 

Sandro Inguscio, wie lange bleiben Sie auf dem aktuellen Chefposten bei Blick?
Sagen wir es so: Ich muss Sachen bis an den Anschlag machen. Dann habe ich sie gesehen und vermisse sie auch nicht.

Sie sind bei Blick die Karriereleiter immer weiter hochgestiegen. Was ist der nächste Schritt?
Blick hält mich seit 13 Jahren bei Laune, was wahnsinnig schwierig ist. Mir war nie ein Tag langweilig, ich hatte nicht einen Tag das Gefühl, dass ich mich nicht verbessern könnte. Zur richtigen Zeit ging immer eine Tür auf und ich bin überzeugt, dass es auch in Zukunft so sein wird.



In der Serie «Hinter den Kulissen» stellt persoenlich.com Personen aus den Bereichen Medien, Werbung und Marketing ins Rampenlicht, deren Arbeit für die Öffentlichkeit ansonsten wenig sichtbar ist.

Bereits erschienen sind:
Souri Thalong, Community-Support Republik
Markus Stadelmann, professioneller Sprecher
Sofiya Miroshnyk, «Club»-Produzentin


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