von Christian Beck
Im Zürcher Volkshaus startete am Dienstag der Wirtschaftsprozess des Jahrzehnts. Der ehemalige Raiffeisen-Bankchef Pierin Vincenz und dessen langjähriger Berater und Aduno-Chef Beat Stocker müssen sich unter anderem wegen Betrug und Abrechnung von Ausgaben in Nachtclubs über Geschäftsspesen verantworten. Angeklagt sind sieben Personen.
Eine besondere Herausforderung ist der Prozess auch für Medienschaffende. Im Volkshaus mussten die Verhandlungen in verschiedenen Räumen durchgeführt werden – und nicht immer hatte es für alle Journalistinnen und Journalisten Platz (persoenlich.com berichtete).
Wie die Gerichtsreporter ihre Einsätze vor Ort bislang erlebten, schildern sie für persoenlich.com exklusiv:
Alex Baur
Redaktor Weltwoche, langjähriger Gerichtsreporter (NZZ und weitere)
«Hand aufs Herz: Hiesse der Hauptangeklagte nicht Pierin Vincenz, kein Schwein würde sich um den beim Bezirksgericht Zürich anhängigen Fall A-1/2017/10041853 kümmern. Schon beim mutmasslichen Hauptkomplizen mit dem Allerweltsnamen Stocker würden die meisten Redakteure normalerweise abwinken (‹Beat Who?›), und das gilt erst recht für die fünf weiteren Mitangeklagten. Tatsächlich handelt es sich um einen mittelprächtigen Wirtschaftsfall. Und wie fast alle derartigen Fälle bewegt er sich irgendwo im Graubereich zwischen schamlos und kriminell. Anders als etwa beim Swissair-Fall waren die Machenschaften von Vincenz & Co nicht existenzbedrohend für die Raiffeisen-Banken. Der Fall lebt allein von der Person Pierin Vincenz: dem jovialen Bündner, der sich bei der Schlachtung des Bankgeheimnisses vor zehn Jahren als Bastion von Bodenständigkeit und Anstand in einer korrumpierten Branche aufspielte – und der sich nun selber als besonders schamloser Abzocker outet.
Das Wichtigste ist, dass wir sauber zwischen Recht und Moral trennen. Die Moral darf bei der juristischen Beurteilung keine Rolle spielen – und wenn es für einen (teilweisen?) Schuldspruch nicht reicht, dann ist Vincenz freizusprechen, ohne Wenn und Aber. Das ist Sache des Gerichtes, da haben wir Journalisten nichts mitzureden. Doch ein Freispruch würde noch lange nicht seine berufliche Rehabilitation bedeuten. Denn als Banker muss sich Vincenz an den moralischen Massstäben messen lassen, die er sich selber setzte. Insofern ist der Prozess nur ein Nebenschauplatz – juristisch interessant, aber journalistisch nicht sehr ergiebig - in einem viel grösseren Drama.»
Stefan Hohler
Gerichtsreporter 20 Minuten
«Wenn an einem Prozess rund 60 Journalistinnen und Journalisten auftauchen und ein Heer von Fotografen das Gerichtsgebäude belagert, dann muss es sich um einen besonders aufsehenerregenden Fall handeln – wie jetzt der Vincenz-Prozess im Zürcher Volkshaus. Der Medienandrang ist vergleichbar mit jenem vom März 2018, als Thomas N. vor Gericht stand – besser bekannt als Vierfachmörder von Rupperswil. Obwohl es im Fall Vincenz um sehr viel – angeblich betrügerisches erwirtschaftetes – Geld geht, richtet sich der Medienfokus hauptsächlich auf die aussergeschäftlichen Eskapaden des ehemaligen Raiffeisen-CEO. Schützenhilfe erhielten die Journalisten durch die Anklageschrift, in der jeder seiner unzähligen Besuche in Nachtclubs im Rotlichtmilieu fein säuberlich aufgelistet ist und die ‹geschäftlichen› Golf- und Familienreisen ausführlich beschrieben werden. Und als Krönung des Ganzen die Rechtfertigungen von Vincenz am Prozess, die so unglaubwürdig waren, dass sie unfreiwillig komisch wirkten.»
Christian Kolbe
Wirtschaftsredaktor Blick
«Eine Frage hat mich im Vorfeld des Vincenz-Prozesses fast am meisten beschäftigt: Wie haben die U-Haft, die Strafuntersuchung und die Anklage den ehemaligen Vorzeigebanker Pierin Vincenz verändert? Auf den ersten Blick fast gar nicht, braungebrannt betritt er den Gerichtssaal. Doch sonst gibt er sich gegenüber den Journalistinnen und Journalisten wortkarg. Mehr als ein ‹Es geht gut› oder ‹En Guete› ist ihm nicht zu entlocken. Die Distanz ist deutlich grösser als noch zu den Zeiten, als er den grossen Zampano als Raiffeisen-CEO gab. Besonders manifestiert sich das am Nachmittag des ersten Prozesstages, als alle Beteiligten – Medien, Anwälte und Angeklagte – vor den verschlossenen Türen des Volkshauses stehen. In der Mitte einer Menschentraube stehen Vincenz und sein Anwalt – rundherum in gebührendem Abstand wir Journalisten. Dieser Abstand ist nicht nur der Pandemie geschuldet.»
Albert Steck
Wirtschaftsredaktor NZZ am Sonntag
«Für die Schweiz ist es ein Mammutprozess. Und doch geht es selbst im Fall Vincenz sehr beschaulich zu und her, vor allem im Vergleich zum Ausland. Selbst in Deutschland gilt es als völlig normal, dass die Journalisten und Fernsehkameras schon früh morgens vor dem Privathaus bereitstehen, wenn etwa beim früheren Postchef Klaus Zumwinkel eine Razzia wegen Steuerdelikten stattfindet und dieser von der Polizei abgeführt wird. Dagegen konnte Pierin Vincenz nahezu ungestört zum Prozess im Zürcher Volkshaus spazieren. Ein paar Fotografen und Fernsehkameras waren zwar zur Stelle – aber insgesamt doch ziemlich diskret. Das zeigte sich vor allem, als das Gericht die Türen fälschlicherweise zu spät öffnete. Eine Viertelstunde musste Vincenz mit seinem Anwalt vor dem Eingang warten. Die Journalisten liessen einen Höflichkeitsabstand von zwei Metern, lästige Fragen musste der prominente Angeklagte nicht über sich ergehen lassen.
Auch der Richter gab sich bei der Befragung betont zahm: Als Vincenz seine Spesenexzesse mit halbgaren Ausreden rechtfertigte, verzichtete er darauf nachzuhaken. Ob dieser pflegliche Umgang für Vincenz auch ein gutes Omen im Hinblick auf das Urteil bedeutet, dies muss sich aber erst noch weisen.»