20.07.2020

Ringier

«Mit Corona in den Ausgang ist kein Kavaliersdelikt»

Die Krise hat auch blick.ch Rekordzahlen beschert. Waren dazu Artikel wie derjenige über «Camila T.» nötig? Digitalchefin Katia Murmann spricht über datenbasiertes Storytelling, das neue Product Board und journalistische Verantwortung in der Corona-Berichterstattung.
Ringier: «Mit Corona in den Ausgang ist kein Kavaliersdelikt»
Seit 2017 amtet Katia Murmann als Leiterin Digital und Chefredaktorin von blick.ch. (Bild: persoenlich.com)
von Edith Hollenstein

Frau Murmann, steigen die blick.ch-Nutzungszahlen immer noch oder lässt das Interesse allmählich nach?
Bei den Visits verzeichneten wir während dem Corona-Lockdown im Vergleich zum Vorjahr beinahe eine Verdoppelung. Auf dem Höhepunkt im März hatten wir 55 Prozent mehr Visits als im Vormonat. Nach den Lockerungsmassnahmen ist die Kurve leicht gesunken und jetzt – mit der Zunahme der Corona-Infektionen in der Schweiz – steigt auch unsere Nutzerkurve wieder an. 

Die blick.ch-Klickzahlen verlaufen also parallel zu den Schweizer Corona-Fallzahlen. 
Genau. Wir haben generell gesehen, dass traditionelle Medienmarken in der Krise wieder gefragt sind. Viele Leute, die sich vorher vor allem via Social Media informierten, kamen neu direkt zu uns. Das freut mich sehr, denn es ist eine gute Entwicklung.

Über Corona berichtet blick.ch teilweise mit starkem Fokus auf einzelne Fälle. Aufgefallen sind in den letzten Tagen die Artikel über «Camilla T.», die 21-Jährige, die mit Covid in den Ausgang ging. Was ausser Klicks ist die Motivation für solche Texte?
Wir haben eine Verantwortung – gerade auch in dieser Krisensituation. Wir wollen keine Panik schüren, sondern sachlich berichten. Und wir sind der Blick: Der Blick ist das Boulevardmedium der Schweiz und personalisiert. Wir sehen, dass unsere Nutzer sehr interessiert sind an Erfahrungsberichten, also etwa an der persönlichen Geschichte eines Covid-19-Patentienten. Oder an Service-Artikeln etwa zur Frage, was man tun soll, um eine Erkrankung zu vermeiden. Der Fall der 21-Jährigen ist aussergewöhnlich und wurde nicht durch uns publik. Die Polizei informierte per Mitteilung, dass über 280 Leute wegen einer Person in Quarantäne mussten. Unser Antrieb war es, hinter diese News zu blicken, wie wir es bei anderen Storys auch tun.

«Wir haben gezeigt, was für eine Person hinter der Polizeimeldung steht» 

Mit solchen Artikeln beginnt genau das, was gefährlich ist: Wenn sich Leute dafür schämen, andere angesteckt zu haben und dann nicht mehr Bescheid geben, wenn sie Covid haben. Das ist doch verantwortungslos.
Nein, das ist natürlich keineswegs unsere Absicht. Aber umgekehrt wäre es ja für uns als Medium auch nicht richtig, nicht über das Thema zu berichten. Wir haben die Frau anonymisiert, unter anderem durch Änderung ihres Namens.

Sie hätten ja einfach die Mitteilung der Polizei bringen können, ohne weitere Details über die junge Frau ausfindig zu machen, sodass sie für die Leute an ihrem Wohnort sehr leicht erkennbar ist.
Unser Bericht war gerechtfertigt. Mit Corona in den Ausgang zu gehen, ist nun sicher kein Kavaliersdelikt.

Blick.ch macht also den Hilfssheriff?
Wir haben gezeigt, was für eine Person hinter der Polizeimeldung steht. In unserem Kommentarforum hat sich eine intensive Diskussion darüber entwickelt. Das Leserinteresse war enorm. Und beim Tages-Anzeiger, der dem Thema einen Kommentar gewidmet hat, waren viele Leser auf der Seite von Blick. Der Umgang mit Corona stellt uns als Gesellschaft immer wieder vor neue Fragen – Fragen, die wir uns noch nie stellen mussten. Blick hat die Antworten auch nicht, kann aber als Diskussionsforum dienen.

Sie richten sich also nur nach dem Leserinteresse?
Selbstverständlich lassen wir uns auch vom Leserinteresse leiten, das müssen die Medien zwingend tun! Gerade bei so einem wichtigen Thema wie Covid-19 muss man aufzeigen, was passieren kann, wenn sich jemand unverantwortlich oder unsolidarisch verhält. 

Gleichzeitig propagiert Ihr Chef CEO Marc Walder die SwissCovid-App. Die Leute werden jedoch noch skeptischer, wenn sie Angst davor haben müssen, angeprangert und stigmatisiert zu werden, wenn sie sich als erkrankt erkennen geben.
Man muss trennen zwischen der App und dem konkreten Fall. Es wird niemand angeprangert oder stigmatisiert, der sich als krank zu erkennen gibt. Im konkreten Fall hat sich die ganze Schweiz gefragt, wie es sein kann, dass jemand so unverantwortlich handelt, dass er an eine Party geht, obwohl er unter Quarantäne steht, und riskiert, Menschen anzustecken. Über den Fall haben wir berichtet, wie das Blick immer tut: indem wir die Hintergründe aufzeigen. Gleichzeitig hat kaum ein anderes Medium so intensiv über die App berichtet und die Menschen aufgefordert, sie zu nutzen, um weiter Ansteckungen zu verhindern.

«Es zeigte sich, wie ein harmloser Leseraufruf eine unbeabsichtigte, ja sehr negative Entwicklung in Gang setzen kann»

Warum stellt blick.ch immer wieder Menschen an den Pranger wie bei der Maskenpflicht?
Der Aufruf zum Einsenden von Fotos aus dem ÖV zum Thema Maskenpflicht ist ein anderer Fall: Da ist ein Fehler passiert.

Sie haben via Twitter «Äxgusi» gesagt. Warum so salopp und wie konnte das denn passieren?
Wir wollten nie dazu aufrufen, Leute zu fotografieren, die im ÖV keine Maske tragen. Die Idee war eine andere. Zum Start der Maskenpflicht wollten wir unsere Leserreporter-Community aktivieren und sie bitten, uns Maskenselfies aus dem ÖV zu senden. Den Aufruf dazu hatten wir jedoch sehr unglücklich formuliert. Als wir den Fehler bemerkt haben, haben wir sofort reagiert und die Formulierung geändert. Wir haben die Dynamik unterschätzt. Es zeigte sich, wie ein harmloser Leseraufruf eine unbeabsichtigte, ja sehr negative Entwicklung in Gang setzen kann. Ein Fehler, den wir einsehen und für den wir uns entschuldigen.

Wie machen Sie denn solche Leserreporter-Aufrufe?
Täglich machen wir mehrere davon – wir haben nämlich sehr aktive Leserreporter. Die Aufrufe lancieren wir über einen speziellen Bereich in der Blick-App, über Whatsapp oder über unser Community-Tool «Hearken». 

«Wir haben realisiert, dass wir die Redaktion, IT, SEO, Social und andere Bereiche enger vernetzen müssen»

Ihre Aufgabe ist es ja vor allem, die Nutzungszahlen zu steigern. Welche Erfolge kann das neue «Product Board», dem Sie vorstehen, bereits verzeichnen?
Beim «Product Board» geht es nicht um Nutzungszahlen, sondern um die Verzahnung verschiedener Abteilungen und Stakeholdern, die es bei der Blick-Gruppe gibt sowie um Priorisierung. Wir haben realisiert, dass wir die Redaktion, IT, SEO, Social und andere Bereiche enger vernetzen müssen, um unsere digitalen Produkte mit grosser Geschwindigkeit weiterzuentwickeln. Als Leiterin Digital habe ich in den letzten Monaten das Produktmanagement in der Blick-Gruppe aufgebaut.

Was ist denn im Product Board traktandiert? Können Sie zwei Beispiele machen?
Wir hatten am Vormittag ein Meeting, da ging es um die User Experience auf blick.ch. Wir wollen ein sanftes Redesign machen. Ein anderes Thema ist beispielsweise die Weiterentwicklung von Blick TV.

Marc Walder kündigte Optimierungen bei Blick TV an. Was meinte er da?
Wir arbeiten derzeit tatsächlich an der Weiterentwicklung. Die wichtigste: Blick TV soll flexibler und prominenter auf der Webseite blick.ch platziert werden. Gerade bei wichtigen, aktuellen Ereignissen, bei einer Live-Medienkonferenz zum Beispiel, wird der Player gross auf der Seite sein und im sichtbaren Bereich stehen bleiben, wenn ein Nutzer nach unten scrollt.

Wird Sportchefin Steffi Buchli neue Formate auf Blick TV moderieren?
Sie wird sich zuerst in ihre neue Funktion einarbeiten und klar: Als Expertin wird Steffi Buchli selbstverständlich auf Blick TV zu sehen sein – wie heute auch ihr Vorgänger Felix Bingesser. Es ist unser Konzept: dass alle unsere Journalistinnen und Journalisten zu ihren Kernthemen im TV sind.

«Als ich 2017 als Chefredaktorin Digital bei blick.ch angefangen habe, gab es über 295 verschiedene Daten-Reports»

Gibt es neue Zahlen zu Blick TV, die Sie nennen können?
Blick TV ist für die Zukunft der Marke Blick von grosser Bedeutung. Wir sind mit der Entwicklung sehr zufrieden: Blick TV ist seit fünf Monaten auf Sendung und produziert mit modernster Technik und einem leidenschaftlichen Team einen Live-Sender.

Vor einem Jahr führten Sie das Daten-Tool Apollo ein. Was für eine Zwischenbilanz ziehen Sie?
Als ich 2017 als Chefredaktorin Digital bei blick.ch angefangen habe, gab es über 295 verschiedene Daten-Reports (lacht). Mir war schnell klar, dass wir vor allem prüfen mussten, was bei den Nutzern ankommt und was nicht, so dass wir Entscheidungen auf Datenbasis treffen können. Unser Ziel ist es, dass die User häufiger zu uns kommen. Als Richtwert gelten uns hier die Unique User per Day. Diesen Wert konnten wir mithilfe von Apollo um 22 Prozent steigern. Werktags erreichen wir erstmals über eine Million Unique User. Die Fokussierung auf Inhalte, die entweder relevant sind oder sonst bei unseren Leserinnen und Lesern sehr gut ankommen, hat sich ausbezahlt. Eindrücklich ist zudem, dass 85 Prozent unserer Mitarbeitenden Apollo jeden Tag für ihre Themenwahl nutzen.

Daneben sind Sie Verwaltungsratspräsidentin der Schweizerischen Mediendatenbank SMD. Mussten Sie in dieser Funktion bereits Löschbewilligungen erteilen?
Nein, das gehört nicht zu meinen Aufgaben.

Ich frage, weil Ringier ja 2019 alle Blick-Artikel über Jolanda Spiess-Hegglin löschen hat lassen. Wann ist ein solches Löschbegehren berechtigt?
Das müssen Sie unsere Rechtsexperten fragen.

«Wir werden ein sanftes Redesign umsetzen»

Was wollen Sie als VRP bei der SMD erreichen? 
Die SMD ist eine extrem wichtige Infrastruktur für die Schweizer Medien. Zentral ist die Finanzierung, ähnlich wie bei anderen Organisationen der Medienbranche. Wir versuchen uns nun noch breiter aufzustellen, sprich zusätzliche Kunden für unsere Angebote zu gewinnen, weitere Verlage oder – wie kürzlich erfolgt – die Gewerkschaft Syndicom.

Spekuliert die SMD auch auf Geld aus dem bundesrätlichen Medienförderungspaket?
Bisher haben wir das noch nicht diskutiert.

Was steht sonst noch auf Ihrer To-Do-List für nach den Ferien?
Wir werden wie erwähnt ein sanftes Redesign sowie die Weiterentwicklung von Blick TV umsetzen. Ausserdem werden wir bestimmte Bereiche auf blick.ch personalisieren. Zudem wird mich die weitere Umsetzung der Registrierungspflicht beschäftigen und das Community-Management, das wir ausbauen werden und zwar dahingehend, dass unser Community-Team in den Kommentarspalten mitdiskutiert.

 

 

 



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