Wer durch die Trennscheibe in den Newsroom schaut, sieht nichts Ungewöhnliches: drei parallele Pultreihen, an deren Kopfseite eine quergestellte Arbeitsfläche, auf der Gegenseite die branchenübliche Monitorwand mit Echtzeitstatistiken. Rund 30 Personen sitzen vor mindestens doppelt so vielen Monitoren. Seit drei Wochen arbeiten sie hier. Ihr Geschäft ist das Tempo.
Für die Ressorts News, Sport, Wirtschaft und People filtert der sogenannte Superdesk die Nachrichtenlage. Von hier aus werden Breaking-News lanciert, Push-Meldungen verschickt, Storys aufgebaut. Der Desk liefert dann auch die erste Vertiefung der aktuellen Berichterstattung – in erster Linie für Blick.ch. Aber auch auf den Websites von Magazinen und Fachtiteln wie Handelszeitung, Bilanz oder Schweizer Illustrierte platziert der Desk mittlerweile Artikel. Das entlastet die Redaktionen, die sich um Hintergründiges kümmern können.
«Wir werden keine One-Newsroom-Strategie fahren», benennt Sandro Inguscio die Grenzen der Redaktionsintegration. «Die DNA der einzelnen Titel muss stark bleiben», sagt Inguscio. «Wenn wir alle Titel komplett aus einer Zentrale steuern würden, dann verlieren sie ihre DNA.» Als Chief Digital & Distribution Officer leitet er zusammen mit Steffi Buchli den Blick seit letztem September (persoenlich.com berichtete). In gleicher Funktion ist er seit dem Zusammenschluss der Blick-Gruppe und Ringier Axel Springer Schweiz auch Mitglied der Geschäftsleitung von Ringier Medien Schweiz (RMS).
Ebenfalls aus dem Newsroom an der Dufourstrasse findet die Koordination über alle RMS-Titel hinweg statt. «Das ist für mich einer der zentralen Bereiche, damit die Stärke von RMS zum Tragen kommt», sagt Sandro Inguscio. Das vierköpfige Coordination-Team unter der Leitung von Daniel Egli behält im Auge, was alle Titel planen. Wenn sie sehen, dass es zu Doubletten kommt, dann melden sie das den jeweiligen Redaktionen. So soll es nicht mehr vorkommen, dass drei Ringier-Medien bei der gleichen Person zum gleichen Thema für ein Interview anklopfen. «Heute koordinieren wir mit den drei Redaktionen, wer was zu diesem Thema beisteuert und was das beste Storytelling für welchen Kanal ist», sagt Sandro Inguscio.
Was entstehen kann, wenn alle miteinander reden und die Kräfte gebündelt werden, zeigte sich jüngst rund um die Premiere des Dok-Films von und mit Cedi Schild über Enkeltrick-Betrüger (persoenlich.com berichtete). Entstanden ist der Film als Izzy-Projekt. Online verbreitet hat ihn Blick.ch als Teil seines kostenpflichtigen Angebots und konnte damit Digital-Abos verkaufen. Die Schweizer Illustrierte wiederum porträtierte Cedi Schild und der Beobachter gab Tipps, wie man sich gegen Enkeltrick-Betrugsversuche schützen kann.
RMS produziert jede Woche 1000 Beiträge
Eine weitere wichtige Aufgabe des Coordination-Teams besteht darin, aus den rund 1000 Beiträgen, welche die Redaktionen von Ringier Medien Schweiz jede Woche produzieren, solche auszuwählen, die auf Blick.ch oder Blick+ platziert werden können. Die Website ist das Flaggschiff der Mediengruppe, das mit über 1,3 Millionen Usern pro Tag am meisten Leute erreicht und darum auch als zentrale Verbreitungsplattform für Beiträge aus dem RMS-Universum dient.
Die neue Organisation ist das Ergebnis von Fusion, Neustrukturierung und Sparprogramm. Nach dem Rückzug von Axel Springer aus dem Joint Venture mit Ringier im vergangenen Jahr rückten die Magazin- und Wirtschaftstitel (u.a. Bilanz, Handelszeitung, Beobachter) mit den traditionellen Ringier-Medien (Blick, Schweizer Illustrierte) zusammen unter dem neuen Dach von Ringier Medien Schweiz.
Nach der Fusion folgte ein Sparprogramm, bei dem es vor allem darum ging, Doppelspurigkeiten abzubauen, die sich aus dem Zusammenschluss von zwei Medienunternehmen ergeben hatten. Gleichzeitig nahm die neue Führung von RMS unter CEO Ladina Heimgartner diese Zäsur zum Anlass, um die neue Organisation zukunftstauglich aufzustellen. «Wir müssen uns heute so aufstellen, dass es uns in den nächsten Jahren noch gibt. Die Zukunft ist jetzt», sagt Sandro Inguscio. Und es warten gewaltige Aufgaben.
Insbesondere die rasante Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) setzt Medienorganisationen unter Handlungsdruck. «Die grossen Umwälzungen, die das Internet und später das iPhone mit sich brachten, haben die Medien verschlafen», sagt Inguscio. «Jetzt kommt mit künstlicher Intelligenz eine noch grössere Revolution auf uns zu. Dieses Mal wollen wir wach, mutig und innovativ sein, damit man uns später nicht vorwerfen kann, wir hätten geschlafen.»
Google gibt noch stärker den Takt an
KI stellt Ringier Medien Schweiz vor grosse Herausforderungen. So wird Google demnächst Antworten auf Suchanfragen als KI-generierte Texte anzeigen. Wer in diesen pfannenfertig servierten Antworten vorkommen will als Quelle, muss in seinen Fachgebieten als glaubwürdig gelten und muss schnell sein, um bei der Quellenauswahl berücksichtigt zu werden. Und Blick will am schnellsten sein und sich auch beim Publikum damit profilieren, den ersten Push zu Ereignis X zu verschicken. Inguscio wiederholt, was er schon früher sagte: «Wir wollen die Breaking-News-Marke der Schweiz sein. Wenn etwas passiert, soll man zu Blick kommen.»
Um die Leute nach dem Push bei sich zu halten und Google das gewünschte Futter für Glaubwürdigkeit und Autorität in den jeweiligen Fachgebieten zu liefern, braucht es langsamere Formate, Recherche und Hintergrund. Mit ihrer jeweiligen Fachkompetenz bringen sich die einzelnen Titel ins Spiel: Blick mit Sport, Beobachter mit Beratung, Schweizer Illustrierte mit People, Bilanz mit Wirtschaftshintergründen und so weiter. Die Frage, auf welchem Kanal das geschieht, ob als Text, Video oder Audio, steht nicht mehr an erster Stelle.
«Wir denken nicht mehr in Kanälen, uns interessieren die unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das geht von Breaking News innert Sekunden bis zur mehrtägigen oder auch mehrwöchigen Recherche», sagt Inguscio. Alle müssen stets an alle möglichen Kanäle denken. Die Reporterin macht nicht mehr die Geschichte für die Zeitung vom nächsten Tag; das zwar auch, aber wenn sie eine News hat, dann geht sie über die entsprechenden Kanäle schon früher raus.
Um die Prozesse im Newsroom effizienter und schneller zu gestalten, setzt RMS zunehmend auf KI. Heute arbeitet die Redaktion mit fünf intern entwickelten KI-Tools, die im letzten halben Jahr eingeführt wurden. Damit lassen sich zum Beispiel Vorschläge für Titel generieren, die auch Suchmaschinen gerne mögen. Sprachnachrichten, Interviews, Gespräche kann KI automatisch verschriftlichen, wobei diese Anwendung auch Mundart versteht – und das sogar erstaunlich gut.
Mehr Zeit zum Optimieren
Ein weiteres Instrument fasst einen Text im Stil eines Blick-Artikels zusammen. Es hilft der Redaktion beim sogenannten Web-Scouting, also dem Auffinden und Abfischen interessanter Beiträge der Konkurrenz für eine Übernahme mittels Paraphrase. Ein Zusammenschrieb, für den ein Mensch bisher eine halbe Stunde oder mehr brauchte, erledigt die Maschine in Sekunden. «Wir wollen aber nicht mehr solche Artikel bringen, nur weil die Maschine so schnell ist. Wir wollen die bestehenden Artikel besser machen», sagt Digital-Chef Inguscio.
Das heisst: Die Journalistin, die bisher eine halbe Stunde lang einen Artikel paraphrasiert hat, braucht nur noch wenige Minuten, um den von der KI vorgeschlagenen Text zu redigieren. Die gewonnene Zeit soll sie dann dafür nutzen, Mehrwert zu schaffen, Quellen zu prüfen und zu belegen, Zusatzinformationen zu beschaffen, das Storytelling kreativer zu gestalten. Kurz: Das Produkt besser machen. Aber das setzt bestimmte Fähigkeiten voraus, über die jemand verfügen muss.
Inguscio sagt es so: «Es braucht auf jeder Position nur noch die Besten.» Darum hat er sich auch für ein fixes Desk-Team entschieden. Es gibt also keine Redaktoren aus Magazin-Titeln, die mal eine Schicht im Newsroom schieben. Wer gut recherchieren kann, soll nur recherchieren. Wer die besten Fähigkeiten für Breaking-Situationen hat und das technisch optimierte Arbeiten schätzt, arbeitet am Desk im Newsroom.
Entspannter Wettbewerb mit 20 Minuten
Am Ende geht es darum, dass die Ringier-Medien geschäftlich erfolgreich sind. Bei den Onlinemedien liefert sich Blick.ch seit Jahren ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit 20minuten.ch um die Spitzenposition. Ein Wettbewerb, den Sandro Inguscio sehr schätzt, aber entspannt sieht. «Das Wettrennen gibt es vor allem noch beim Reach», stellt er fest und meint damit die werberelevante Reichweite, die Blick.ch und 20minuten.ch mit ihren Gratisartikeln im Netz erzielen müssen. «Aber sonst haben wir uns diverser aufgestellt», hält Inguscio fest. Etwa mit dem kostenpflichtigen Blick+ oder den RMS-Titeln, die nun enger zusammenarbeiten. Und auch beim Sport hat Blick traditionellerweise die Nase vorn. Mit dem neuen Newsroom vielleicht noch etwas weiter vorn.
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26.03.2024 17:25 Uhr