Für Jessica Peppel-Schulz war es der erste öffentliche Auftritt in der Schweiz seit ihrem Amtsantritt als Tamedia-CEO vor bald einem Jahr. Höchstwahrscheinlich hätte die ehemalige Condé-Nast-Chefin bei ihrer «Premiere» auch lieber eine glamourösere Botschaft verkündet als den grössten Umbau in der Geschichte des Urzürcherischen Verlagshauses und den markantesten Abbau in der Medienbranche während der letzten Jahrzehnte (persoenlich.com berichtete). Aber vielleicht signalisierte ihr signalrotes Jackett bereits die Ernsthaftigkeit der Situation: Fast 290 Stellen gehen verloren, zwei Druckereien werden geschlossen, die Werbevermarktung und auch die Unternehmensstruktur werden – einmal mehr – neu konzipiert. Wobei mittlerweile allen klar ist, dass jede Neustrukturierung oder jeder Relaunch in der heutigen Zeit längst nicht mehr aus organisatorischen oder optischen Gründen passiert, sondern einzig und allein, um Kosten einzusparen.
Der heutige Tagi-Entscheid ist eine Zäsur, die weit über die mittlerweile fast schon zur Normalität gewordenen Einschnitte und Veränderungen bei anderen Medienhäusern hinausgeht. Es ist das klare Zeichen, dass es der Branche wirklich schlecht geht (dies betrifft übrigens nicht nur die Medien-, sondern auch viele in der Werbebranche, die dies aber weit zurückhaltender kommuniziert). Es ist auch das Eingeständnis, dass die Tagi-Spitze – trotz Millionengewinnen in den vergangenen Jahren – nicht mehr an das traditionelle Businessmodell mit Werbung und Abos glaubt. Fast schon reflexartig forderte der Verband Schweizer Medien nach der Tagi-PK mehr Presseförderung, was rechtlich momentan gar nicht möglich ist. Vor einigen Jahren wäre dies noch ein Sakrileg gewesen und hätte dem Grundverständnis der Verleger diametral widersprochen.
Man kann Tamedia sicher nicht vorwerfen, dass sie sich vor unpopulären Entscheidungen und deren Kommunikation scheut. Was bedeutet, dass in deren Windschatten sicher schon bald andere Verlagshäuser und Medienunternehmen ähnliche Hiobsbotschaften verkünden werden. Der Tagi-Entscheid, der im Gegensatz zu anderen Beschlüssen des gleichen Hauses erstaunlich wenig öffentliche Empörung ausgelöst hat, offenbart eine Realität, mit welcher wir uns verstärkt auseinandersetzen müssen: Werbung – als Motor des ganzen Systems – wird immer mehr zu einem raren Gut, wobei die ideologisch motivierten Werbeverbote und die angedachten Plakatverbote in den grossen Städten den ganzen Rückgang unnötig beschleunigen. Am schwersten wiegt aber, dass mittlerweile jeder zweite Werbefranken zu Google, Facebook und den anderen Techunternehmen abfliesst, ohne dass etwas zurückkommt. Die SRG-Devise, wonach jeder Rappen zählt, haben sich vor allem die Techgiganten zu Herzen genommen. Doch dieses Thema ist vielerorts immer noch der berühmte weisse Elefant im Raum, den man gerne ignoriert. Trotz der ganzen Diskussion über das Leistungsschutzrecht.
Vergangene Woche stand ich beim Aletschgletscher und wunderte mich über die schwindende Eisfläche. Hoffen wir, dass die Medien- und Werbebranche langfristig vor einem solch markanten Rückgang verschont bleibt. Seit der heutigen Tagi-PK bin ich mir nicht mehr sicher; Aletsch ist überall.
Lesen Sie zu diesem Thema das ausführliche Interview mit Tamedia-CEO Jessica Peppel-Schulz oder hören Sie unsere Analyse im persoenlich.com-Podcast.
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30.08.2024 12:57 Uhr
29.08.2024 08:48 Uhr
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Die Tagi-Zäsur