14.06.2001

Geister-Spots im Löwen-Zirkus

Ob nichtige Nuance oder nervige Nebenerscheinung, ob wahres oder vermeintliches Ärgernis, es gibt sie, die Geister-Werbung, die auf nationalen und internationalen Veranstaltungen wie nächste Woche in Cannes immer mal wieder von sich reden macht. Und die an Wettbewerben teilnimmt, obwohl sie eigentlich disqualifiziert gehört. Weil es sich um Kreationen handelt, die es im realen Werbeleben so gut wie gar nicht gibt.
Geister-Spots im Löwen-Zirkus

Von Singapur bis Sao Paulo gehen Kreative oftmals lange und verschlungene Wege, nur um an der Konkurrenz teizunehmen und ganz unberechtigt Preise einzuheimsen. Die Geisterpalette reicht von Werbung, die vom Kunden nie und nimmer gebilligt und deshalb nie eingesetzt wurde und mithin zur Teilnahme gar nicht zugelassen werden dürfte, bis hin zu Auftritten, die vielleicht nur ein einziges Mal gelaufen sind - zuweilen auf Kosten der Agentur -, nur um zumindest technisch gesehen teilnahmeberechtigt zu sein.

Ein allgegenwärtiges, latentes Problem

Ob man es zugeben will oder nicht, die Dinger sind nun einmal da. Auch jetzt in Cannes, so wie überall, wo es Awards zu gewinnen gibt. Das erste spanische Wort, das viele Werbe-Events besuchende Kreative lernen, ist "Truchos": Fälschungen oder Werbeauftritte nur zum Schein. Die in dieser schwarzen Awards-Kunst ebenfalls mit grossem Geschick agierenden Brasilianer haben ihnen den Namen "Fantasmas" gegeben: Geister- oder Phantom-Spots also, denn bei vielen davon handelt es sich ja um Einsendungen für die Werbefilm-Kategorie.

Was hat es real damit auf sich hat, umschrieb der diesjährige Jury-Präsident von Cannes, Bob Isherwood, in einem an alle Mitglieder des Löwen-Preisgerichts gerichteten Warnschreiben. Die Unsitte sie überall präsent und es sei Pflicht aller Löwen-Preisrichter, Mogel-Werbung, egal aus welchem Land, als solche zu identifizieren und zu disqualifizieren. Der gebürtige Australier und heutige Chef-CD des zu Publicis gehörenden weltweiten Saatchi-Agentur-Networks, wies unter anderem darauf hin, dass im vorigen Jahr zwei Löwen aus seinem Heimatland Australien nach Cannes zurückgeschickt wurden, weil die Kampagnen, für die sie kreiert wurden, nur auf dem Papier existierten, während die Sache mit einem dritten zweifelhaften Gewinner noch untersucht werde.

In der Agenturbranche hat man hinter vorgehaltener Hand den Festival-Veranstaltern schon lange Vorwürfe wegen mangelhafter Sichtungskontrolle gemacht. In Cannes wurde es wegen der Ereignisse des letzten Jahres den Agenturen erstmals zur Pflicht gemacht, dass jemand aus der Geschäftsführung jede Einreichung mit unterschreibt. Obwohl die Stellung des Unterschriftleistenden dabei ebenso wenig verlangt wird wie der verbindliche Nachweis, dass eine mitkonkurrierende Kreation als Werbung für ein reales Produkt schon real gelaufen ist.

Eine häufiger Trick und eine verblüffende Lösung

Zu den beliebtesten Täuschungsmanövern gehört, wie gesagt, die Sache mit der Agenturkasse, aus der irgendein billiges Medium für oftmals nur regionale und auf jeden Fall zeitlich stringent begrenzte Platzierung bezahlt wird, nur um der Qualifikationsvorschrift Genüge zu tun. So meinte denn Romain Hatchuel, Festival-Chef von Cannes und Sohn des Vorsitzenden Roger Hatchuel, dass es mit einer Media-Rechnung allein als schlüssigem Beweis nicht getan sein könne. Er hoffe, dass die Jury in Cannes aus den Heimatländern der Teilnehmer rechtzeitig auf etwaige Mogelpackungen hingewiesen werde und erinnerte daran, dass ein Cannes-Juror einmal gesagt habe, er wolle nicht den Polizisten spielen. Seine Antwort darauf sei, dass es nicht darum gehe, Awards-Polizei zu spielen, sondern zum Wohl der ganzen Branche rigorose Selbstdisziplin walten zu lassen. Nichts sei hundertprozentig, aber man befinde sich inzwischen auf dem richtigen Weg.

In Chile, wo die Phantom-Einsendungen ebenfalls zum andauernden Ärgernis wurden, hat der für die dortige Award-Show verantwortliche Verband der Werbeagenturen aus der Not eine Tugend gemacht. Eigens für ansonsten nicht qualifizierte Werbung wurde die Kategorie "Free Expressions" eingeführt, in der Kreationen um Preise streiten, die mangels realen Einsatzes in den regulären Disziplinen nicht mitmachen können. Bei einer eigens vorab durchgeführten Sichtung wird bei allen Einsendungen für alle Wettbewerbsdisziplinen recherchiert, ob die Auftritte oder Kampagnen, wie vorgeschrieben, in praxi gelaufen sind oder nicht. Wenn nicht, können sie in der "Kategorie des Freien Ausdrucks" mitmachen. Beim letzten Festival in Santiago de Chile landeten allein 96 von insgesamt 797 Einsendungen in dieser Disziplin für die regulär nicht qualifizierten. Dabei gewannen DDB/Santiago und BBDO de Chile Gold in der Print-Kategorie, obwohl dies von der Omnicom-Mutterorganisation aus verständlichen Gründen bisher kaum an die grosse Glocke gehängt worden ist.

Ein paar griffige Fallbeispiele aus der Awards-Mogelei

Bei dem "Nonnen-Spot" für den niederländischen Klebstoff Talens (Bild oben), von der damals unabhängigen, heute zu Publicis gehörenden spanischen Agentur Casadevall Pedreno & Partners kreiert, weiss man bis heute nicht so recht, ob der 1992 in Cannes gewonnene Grand Prix zu Recht verliehen wurde oder nicht. Viele werden sich erinnern, dass es um den Cherubsengel in einem Nonnenkloster ging, dem der winzige Penis abgebrochen war. Selbiger wurde von Schwester Oberin mit besagtem Klebstoff wieder befestigt - nur leider verkehrt herum. Eine jüngere Ordensschwester mit einer offenbar schon besseren Perspektive von den weltlichen Dingen nahm später die Korrektur vor. Das Bild indes, das der so geehrte TV-Spot in Wirklichkeit niemals richtig gelaufen sei, konnten die Grand Prix-Sieger von damals bis heute nicht hundertprozentig korrigieren. Die Einsendung sei voll und ganz legitim gewesen, beteuerte die Agentur, bis die Diskussion über den Fall endlich im Sande verlief.

In Brasilien entstand vor ein paar Jahren beim dortigen Young & Rubicam-Office eine Print-Anzeige für ein Glacé von Kibon, die von der Jury in Cannes prompt in Zweifel gezogen wurde: Die kleinen Löffel, die das Eis suchten, erwiesen sich bei näherer Betrachtung als Spermien, das Eis selbst als weibliche Eizelle. Der Kunde liess in der Lokalpresse später verkünden, dass diese Kreation nie gebilligt worden sei. Ähnlich lief es mit den fraglichen australischen Kampagnen im vorigen Jahr, wo in einem Fall eine Print-Anzeige für den Zoo von Sydney einen Bronze-Löwen erhielt, die der Philosophie des Kunden entgegenstand. Die verantwortliche Agentur, Lowe Lintas & Partners in Sydney, zog hier wie beim anderen fraglichen Award-Gewinn die Konsequenzen, gab die Löwen zurück und führte bei sich selbst ein Regime strengster Awards-Teilnahmekontrolle für alle Shows ein.

Die Grauzone bleibt

Dass die Beteiligten, Agenturen und Werbetreibende, bei den "Werbe-Blüten" oft selbst eine zwielichtige Rolle spielen, wird in dem seitenlangen Beitrag auch anhand einiger Beispiele dargestellt. In einem Fall ging es um eine mit einem Löwen aus Bronze ausgezeichnete Electrolux-Printwerbung, wo Grey/Shanghai die Trophäe dank Kundenbestätigung behalten durfte. In Wahrheit von Saatchi betreut, handelte es sich lediglich um eine Kreativpräsentation, die zwecks Quali irgendwo einmal ganz schnell platziert wurde. Fallbeispiel dafür, wie sich Agenturen und Kunden auch gegenseitig aushelfen können.


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