07.03.2021

Wegen Diskriminierung

78 Tamedia-Journalistinnen protestieren

Frauen würden zurechtgewiesen und in Sitzungen abgeklemmt. In einem Brief an die Chefredaktion protestieren Journalistinnen gegen die «sexistische Arbeitskultur». Chefredaktor Arthur Rutishauser sagt, er toleriere Belästigung und Diskriminierung nicht.
Wegen Diskriminierung: 78 Tamedia-Journalistinnen protestieren
Bei Tamedia herrsche eine männlich geprägte Betriebskultur, die sich durch die Pandemie und Homeoffice verschlechtert habe, heisst in einem Brief an die Tamedia-Geschäftsleitung. (Bild: Keystone/Gaëtan Bally)
von Edith Hollenstein

Ein Grossteil der Tamedia-Frauen hat genug. Zu gross ist der Frust über die Arbeitsatmosphäre in den Redaktionen. In einem Brief, unterzeichnet von 78 Mitarbeiterinnen in Basel, Bern, Interlaken, Thun, Winterthur, Bülach und Zürich, fordern sie von der Geschäftsleitung und der Chefredaktion sofortige Massnahmen, damit sich ihre Lage bessert.

Im Schreiben, das persoenlich.com vorliegt und am Wochenende via Twitter öffentlich geworden ist, heisst es, bei Tamedia würden Frauen «ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert». «Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht». Zudem würden Frauen weniger gefördert und schlechter entlohnt.

«In Sitzungen niedergemacht»

Die Probleme seien strukturell. Deshalb hätten erneut mehrere talentierte Frauen gekündigt, heisst es im Brief. Auch gegenüber persoenlich.com haben in der Vergangenheit mehrere Tamedia-Journalistinnen frauenfeindliche Arbeitsbedingungen als einen Grund für ihren Abgang genannt – jedoch nur hinter vorgehaltener Hand. Keine gab die Einwilligung, namentlich zitiert zu werden. Das machte für persoenlich.com eine Berichterstattung schwierig. Nun kommen Details zu dieser Arbeitsatmosphäre im Schreiben auf den Tisch.

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Wie aus dem Brief hervorgeht, werden etwa in Sitzungen «Frauenthemen» unverhältnismässig hart kritisiert, teilweise niedergemacht. Der Umgangston sei harsch. Es sei vorgekommen, dass Mitglieder der Chefredaktion es tolerierten, wenn Frauen von Vorgesetzten beleidigt wurden. Solche und viele weitere Beispiele listen die Frauen auf acht Seiten auf. So auch folgende Schilderung einer Themenrunde: «Ein Teamkollege schlägt ein Stück zu Corona-Krediten mit einer Umfrage bei verschiedenen Banken vor. Ich übernehme das Thema. Ein anderer Teamkollege sagt daraufhin: ‹Dann musst du das kleine Schwarze hervorholen›.»

Expertinnen als «trockene Guetzli» bezeichnet

Generell sei die Kommunikation untereinander teilweise sexistisch und abwertend. In Sitzungen, in denen über mögliche Themen und Interview-Möglichkeiten diskutiert werde, würden Managerinnen oder weibliche Exponentinnen wiederholt als «trockene Guetzli» oder «Mädel» bezeichnet. Zudem stört es die Unterzeichnerinnen des Briefes, dass Vorschläge nach genderkonformen Bezeichnungen etwa mit dem Genderstern nicht ernst genommen würden. Auch sei ihre Berichterstattung über das 50-Jahr-Jubliäum des Frauenstimmrechts teilweise als nicht relevant eingestuft worden.

Tamedia dürfte diese Aktion nicht ganz unerwartet getroffen haben. Denn just am Freitag, 5. März, also an dem Tag, auf den auch der Brief der 78 Frauen datiert ist, verschickten die beiden Co-Geschäftsführer Marco Boselli und Andreas Schaffner ein Mail mit dem Ziel, verbindliche Ziele zur Frauenförderung zu erarbeiten. Es soll festgelegt werden, welche Frauenanteile «wir in den Redaktionen und den anderen Abteilungen von Tamedia sowie auf den verschiedenen Führungsstufen bis in 12 und 24 Monaten erreichen wollen». 

«Zeit für eine verbindliche Strategie»

Offenbar sehen also die Chefs den Handlungsbedarf. «Wir sind uns bewusst, dass die bisherigen Massnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in den Redaktionen und insbesondere in Führungspositionen nicht ausreichen und es Zeit für eine verbindliche Strategie ist», schreibt Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser am Sonntagmittag auf Anfrage von persoenlich.com.

Er und die anderen Empfänger würden das Schreiben und die Forderungen darin sehr ernst nehmen. «Verschiedene der erwähnten Beispiele sind nicht akzeptabel. Jegliche Art von Belästigung und Diskriminierung wird bei uns nicht toleriert», schreibt Rutishauser.

Im Auftrag der Tamedia-Geschäftsleitung befasse sich seit Dezember eine interne Arbeitsgruppe unter der Leitung von Priska Amstutz, Co-Chefredaktorin des Tages-Anzeigers, mit dem Thema Diversity mit Fokus Frauenförderung.

Claudia Blumer wird Vertrauensperson

Laut dem oben erwähnten Chef-Mail vom 5. März, das kurz vor dem Frauenbrief verschickt worden war und persoenlich.com vorliegt, hat die Geschäftsleitung weitere Beschlüsse gefasst: Sie will in ihrer Berichterstattung «noch ausgeglichener werden».

Zudem wurde entschieden, Vertrauenspersonen zu definieren. Sie dienen als Instanz bei Diskriminierungen im Arbeitsalltag: «Alle, die Ungerechtigkeiten erleben, sollen sich an diese Person wenden können.» Laut Rutishauser wurde für die Redaktionen Tamedia-Inlandredaktorin Claudia Blumer mit dieser Aufgabe betraut.

«Stauffacher Deklaration» 2016 gescheitert

Tamedias Probleme mit der Frauenförderung sind nicht neu. Schon länger hapert es. Die im Juni 2013 unter viel öffentlicher Beachtung lancierte «Stauffacher Deklaration» mit dem Ziel 30 Prozent Frauen – ausgeglichen auf den Stufen Redaktion, Teamleitungen, Ressortleitungen, Tagesleitung und Chefredaktion – wurde nicht erreicht. Die Ratlosigkeit und Ernüchterung war gross, als Tamedia drei Jahre später eingestehen musste, mit dem Vorhaben gescheitert zu sein.



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Kommentare

  • Rudolf Penzinger, 08.03.2021 16:12 Uhr
    Frauenquoten sind das eine - das andere (und beim "Tagi" offenbar gewichtigere) ist die Atmosphäre, die in einer Redaktion herrscht: Da hat der Chefredaktor versagt - er allein! Er trägt die Verantwortung für das Redaktionsklima. Diese können ihm weder "Vertrauenspersonen" , noch Geschäftsleitungs-Beschlüsse abnehmen. Das ist für einmal wirklich "Chefsache", Herr Rutishauser!
Kommentarfunktion wurde geschlossen

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