22.02.2022

Ukraine-Konflikt

«Als Journalist konnte ich mich frei bewegen»

Die Lage zwischen der Ukraine und Russland spitzt sich immer mehr zu. CH-Media-Auslandchef Samuel Schumacher war als Sonderkorrespondent acht Tage lang in der Ukraine unterwegs – und teilt im Interview seine Eindrücke.
Ukraine-Konflikt: «Als Journalist konnte ich mich frei bewegen»
Hat mehrere Kommandoposten der ukrainischen Armee besucht: Samuel Schumacher. (Bild: zVg)
Herr Schumacher, seit Wochen baut Russland seine militärische Präsenz an der Grenze zur Ukraine aus –westliche Medien sprechen von einer drohenden Kriegsgefahr. Sie haben die Ukraine kürzlich für eine Reportage besucht. Zu welchem Thema haben Sie recherchiert?
Ich bin acht Tage lang als Sonderkorrespondent für CH Media durch die Ukraine gereist. In der Hauptstadt Kiew habe ich Militärspitäler und U-Bahn-Bunker besucht und den Schweizer Botschafter Claude Wild für ein Interview treffen können. Danach bin ich mit dem Zug quer durchs Land in den ukrainischen Donbass gereist. In der Stadt Slowjansk traf ich die einzige Schweizerin, die in der Region lebt: Eva Samoylenko-Niederer, die dort seit 2006 das Kinderheim «Segel der Hoffnung» betreibt. Danach bin ich an die Front gereist und habe entlang der Kontaktlinie zu den jetzt von Putin als unabhängig anerkannten Separatistengebieten mehrere Kommandoposten der ukrainischen Armee besuchen können.
 
Gab es Situationen, in denen Sie an Ihrer Arbeit gehindert wurden? 
Nein, im Gegenteil. Die Ukrainerinnen und Ukrainer waren extrem offen und froh, dass sie ihre Sicht der Dinge gegenüber Journalisten darlegen konnten. Das Land fühlt sich vom Westen – nicht ganz zu Unrecht – oft vergessen und falsch verstanden. Als Journalist konnte ich mich frei bewegen und – abgesehen von den Überwachungsbildschirmen in den Kommandoposten an der Donbass-Front – auch überall fotografieren und filmen.
 
Wie sieht es mit Ukraine-Korrespondenten aus anderen Ländern aus? Sind Ihnen Fälle bekannt, in denen Medien ihre Journalisten in letzter Zeit wegen der drohenden Eskalation aus der Ukraine abgezogen haben? 
Es gibt kaum exklusive Ukraine-Korrespondenten. Die meisten mir bekannten Medien lassen ihre in Russland oder in Polen stationierten Journalisten über die Ukraine schreiben. Jene, die in der Ukraine selbst stationiert sind, sind aber gefragter als je zuvor. Ich habe von keinem Fall gehört, in dem Korrespondenten wegen der drohenden Eskalation abgezogen worden sind. Im Gegenteil: Paul Flückiger, der für uns über Polen schreibt, ist seit einigen Tagen im westukrainischen Lemberg unterwegs.
«Zur Verteidigung gehört ein transparenter und patriotisch gefärbter Journalismus»
 
Bereiten sich ukrainische Journalisten auf einen möglichen Krieg vor? 
Natürlich. Die Ukrainer sind sich bewusst, dass sie einem militärisch überlegenen Gegner gegenüberstehen. Der Wille, das Land zu verteidigen, ist riesig. Zur Verteidigung gehört auch eine transparente, oft patriotisch eingefärbte Form des Journalismus, der die Leute ausführlich über russische Propaganda-Angriffe und Einschüchterungsversuche informiert. 
 
Wie berichten die ukrainischen Medien über die Situation? Warnen sie vor einem unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff oder versuchen sie die Bevölkerung zu beruhigen? 
Das kann ich nicht abschliessend beurteilen. Was ich sagen kann: Selbst jetzt, wo die Kriegstrommeln im Westen lauter tönen denn je, scheinen mir viele meiner ukrainischen Bekannten unverhältnismässig entspannt und ruhig. Eine ukrainische Bekannte hat mir erklärt, ihre Landsleute seien seit jeher «leidenschaftliche Fatalisten».
 
Wie haben Sie die Stimmungslage in der Ukraine erlebt? Was denken die Menschen vor Ort über eine mögliche Eskalation der Lage?
Viele reagierten erstaunt auf meine Frage, ob sie Angst hätten. Für die Menschen dort hat sich wenig verändert. Die Alltagsprobleme sind so gross, dass kaum jemand Zeit und Energie hat, sich mit drohenden politischen Konflikten auseinanderzusetzen. Nur als Beispiel: Ich habe mit Menschen gesprochen, die 60 Prozent ihres Einkommens für Heizkosten ausgeben! Wenn Sie frieren und sich das jeden Tag teurer werdende Brot nicht mehr leisten können, dann sind Ihnen die russischen Truppenaufmärsche egal, dann haben Sie viel unmittelbarere Sorgen.

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