09.02.2023

#MediaToo

«Die Arbeitskultur ist geprägt von Macho-Männern»

Die Sexismusvorwürfe bei Tamedia schlagen hohe Wellen. Miriam Suter, stv. Chefredaktorin von ElleXX, spricht über ein strukturelles Problem in der Medienbranche, die Rolle von schweigenden Beobachtern und dem Konkurrenzdruck. Und: Sie nimmt die Männer in die Pflicht.
#MediaToo: «Die Arbeitskultur ist geprägt von Macho-Männern»
«Sexismus ist nicht an einzelne Häuser oder Personen gebunden, sondern ist ein strukturelles Problem»: Miriam Suter, stv. Chefredaktorin von ElleXX. (Bild: Nadine Jayaraj)
von Michèle Widmer

Frau Suter, der Bericht von Anuschka Roshani im Spiegel über Sexismus und Diskriminierung während ihrer Zeit beim Magazin schlägt hohe Wellen. Was hat die Publikation bei Ihnen ausgelöst?
Dass es im Journalismus immer wieder Fälle von Machtmissbrauch und Machogehabe gibt, ist leider nichts Neues. Die detaillierten Beschreibungen von Roshani haben mich dann aber doch schockiert. Überrascht war ich nicht, aber es ist meines Wissens das erste Mal, dass eine Betroffene aus der Medienbranche öffentlich Klarnamen nennt und selber auch mit dem Namen hinsteht. Normalerweise bleiben die Betroffenen und manchmal auch die vermeintlichen Täter in den Artikeln anonym oder man weiss einfach innerhalb der Szene, wer gemeint ist oder gemeint sein könnte. Dass es diesmal anders war, hat mich beeindruckt. Man macht sich damit als Frau ja immer angreifbar und kann vorab nie einschätzen, ob eine Welle aus Hass oder eine aus Solidarität über einen hereinbrechen wird. Bei Roshani war ja zum Glück Letzteres der Fall.

Sie schreiben als Journalistin seit Jahren über feministische und gesellschaftskritische Themen. Wie beurteilen Sie das Sexismusproblem in der Medienbranche?
Die Medienbranche hat ganz klar ein Sexismusproblem. Das wissen alle Journalistinnen, die sich mit Kolleginnen darüber austauschen, was man mit Chefs, Kollegen oder auch Interviewpartnern schon alles erlebt hat. Als Praktikantin, aber auch als erfahrene Journalistin. Und auch journalistisch wird das Thema immer wieder aufgearbeitet, etwa 2019 von Simone Rau. Sie prägte mit ihrer Reportage den Hashtag #MediaToo.

Warum ist es in der Medienbranche speziell ein Problem?
Was die Medienbranche spezifisch betrifft, ist es sicherlich ein Problem, dass ein wahnsinnig grosser Konkurrenzdruck herrscht und dadurch Abhängigkeiten entstehen. Als ich angefangen habe, wollten gefühlt alle Journalistin oder Journalist werden. Wenn du den Einstieg geschafft hast, wolltest du dir unter keinen Umständen etwas zuschulden kommen lassen, damit du den Job nicht verlierst. Es warteten ja bereits zehn andere in der Schlange hinter dir. Dann willst du sicher nicht damit auffallen, dass du deinen Chef «anschwärzst». Diese Dynamik zieht sich bis heute hin. Zudem: Es gibt zu wenig unabhängige Stellen, bei denen man sich niederschwellig melden kann. Und dabei zeigen Studien und Umfragen immer wieder, dass jede zweite Journalistin beim Arbeiten belästigt wird und dass Berufseinsteigerinnen besonders gefährdet sind.

«Wir sind alle Teil einer Kultur, die übergriffiges Verhalten zulässt und schützt»

Der aktuelle Fall zeigt: Viele Mitarbeitende haben von den Vorgängen gewusst, aber nichts gesagt. Müssen sie sich alle mitschuldig fühlen?
Es ist wichtig, dass wir uns klar machen: Auf sehr vielen Redaktionen herrscht nach wie vor ein Klima, das sexistisches Verhalten begünstigt. Diese Arbeitskultur wuchs langsam und nachhaltig heran und ist noch immer beeinflusst von Macho-Männern, die den Journalismus vor Jahren massiv prägten. Das klingt jetzt sehr dramatisch, sexistisches Verhalten kommt aber auch soft daher und kann sich darum langsam über Jahre hinweg einschleifen: Man gewöhnt sich vielleicht zuerst an einen Blick, der zu lang auf den Beinen oder im Ausschnitt bleibt. Dann an die doofen Sprüche. Und irgendwann, weil man so lange nichts gesagt hat, traut man sich nicht mehr, sich zu wehren, wenn man angefasst wird. Oder wenn man es mitbekommt. Und: Wenn man sich denn mal wehren wollte, wurde und wird man teilweise heute noch abgeschmettert mit Sprüchen wie «Sei doch nicht so empfindlich». Das motiviert auch Beobachterinnen und Beobachter nicht gerade dazu, zu helfen.

Welche Rolle spielt der erwähnte Konkurrenzdruck?
Nicht nur, aber gerade im Falle des Magazins kommt der sehr stark zum Zug. Diese Redaktion ist derart prestigeträchtig, welche Journalistin oder welcher Journalist will schon nicht zum Tagi-Magi? Das ist der Jackpot. Solche Jobs sind im Journalismus rar gesät. Dadurch nimmt man einen Chef, der sich daneben und übergriffig verhält, vielleicht eher in Kauf – wenn man dafür seine Stelle behalten kann. Ich finde dennoch nicht, dass «mitschuldig», wie Sie es oben nannten, hier das richtige Wort ist. Wir sind alle Teil einer Kultur, die übergriffiges Verhalten zulässt und schützt. Aber wir können alle auch Teil einer Veränderung sein und zusammen eine neue Kultur auf Redaktionen schaffen.

«Wenn wir Sexismus immer wieder an Einzelpersonen aufhängen, verpassen wir, über Strukturelles zu sprechen»

Nach dem Frauenbrief vor zwei Jahren sorgt nun wieder Tamedia mit Sexismusvorwürfen für internationale Aufmerksamkeit. Warum bleibt es ruhig um die anderen Medienhäuser?
Es bleibt nicht ruhig um die anderen Medienhäuser: Die SRG hatte 2020 mit Darius Rochebin ihre Geschichte, Ringier 2017 mit Werner de Schepper, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das zeigt: Sexismus ist nicht an einzelne Häuser oder Personen gebunden, sondern ist ein strukturelles Problem. Journalistinnen und Journalisten neigen dazu, aus solchen Geschichten eine persönliche Schlammschlacht zu machen, in der sich die einzelnen Medienhäuser untereinander fertig machen. Das bringt nichts, es ist nicht zielorientiert. Wenn wir Sexismus immer wieder an Einzelpersonen aufhängen, verpassen wir, über Strukturelles zu sprechen. #MediaToo wird in zwei Wochen wieder niemanden interessieren, und wenn wir jetzt nicht darüber sprechen, was sich ändern muss und nachhaltig dranbleiben, dann braucht es in den nächsten Jahren nochmal zehn Frauenbriefe.

Sie fühlen sich «ausgelaugt», schreiben Sie in den sozialen Medien. Haben #MediaToo oder der Tamedia-Frauenbrief nichts verbessert?
Es ist ja durchaus einiges im Gange: Es gibt das Social Responsibility Board bei 20 Minuten, EqualVoice bei Ringier, eine sehr engagierte Chefredaktorin mit Priska Amstutz beim Tages-Anzeiger und bei SRF hat Nathalie Wappler offenbar intern sehr gut auf die Vorwürfe reagiert, die unsere Gründerin Patrizia Laeri erhoben hat. Es geht schon vorwärts, einfach sehr, sehr langsam und manchmal fehlt mir die Geduld. Auf Social Media habe ich auch darüber geschrieben, dass es mich nervt, dass die Sexismusdebatte vor allem von Frauen geführt wird.

Journalisten stehen zu wenig für ihre Kolleginnen ein?
Es sind immer Frauen, die sagen, was sich ändern muss, und sich mehrheitlich für diese Veränderungen einsetzen. Klar, der grössere Teil der Betroffenen sind Frauen und es ist wichtig, dass wir diesen Raum bekommen und man uns zuhört. Aber gleichzeitig verlangt es uns auch enorm viele emotionale Ressourcen ab, immer wieder auf diese Ungerechtigkeiten und Übergriffe aufmerksam machen zu müssen. Ressourcen, die wir für unsere Arbeit, unsere Freundinnen und Freunde oder Selbstfürsorge einsetzen könnten. Dass sämtliche Journalisten immer wieder schweigen, wenn es um Sexismus in der Branche geht, enttäuscht mich schon sehr. Ich fühle mich von meinen Kollegen überhaupt nicht aufgefangen und unterstützt. Es reicht einfach nicht, im Rahmen des Medienfrauenstreiks ein Plakat mit Forderungen in die Kamera zu halten für ein Foto auf Instagram. Dieses männliche Schweigen ist ein grosser Teil einer toxischen Arbeitskultur, die übergriffiges Verhalten möglich macht, toleriert und schützt. Und es führt dazu, dass sich Männer, die Opfer von Übergriffen werden, noch viel weniger trauen, diese anzusprechen oder sich zu wehren. Solche Fälle gibt es natürlich auch.

Aber die Debatte in der Gesellschaft oder der Branche über Sexismus und Diskriminierung hat sich verändert. Wie nehmen Sie das wahr?
Es wird heute sicherlich offener über Sexismus gesprochen, nicht nur in der Medienbranche. Diesbezüglich spüre ich durchaus einen gesellschaftlichen Wandel. Betroffene teilen ihre Erfahrungen eher, untereinander, aber auch öffentlich. Dafür brauchte es zuerst ein Klima, das mutig macht und nicht Angst schürt. Und diese gesellschaftliche Entwicklung hat viel mit dem starken feministischen Engagement der letzten Jahre auf vielen Ebenen zu tun. Wir sind diesbezüglich auf einem guten Weg, aber da ist noch viel Luft nach oben.

Was müsste passieren, dass dieses strukturelle Sexismusproblem in der Medienbranche weniger wird?
Viele verstehen das falsch: Es gibt keinen Zaubertrick, der Sexismus in der Medienbranche abschafft. Der Journalismus findet ja nicht in einem Vakuum statt, er widerspiegelt die Gesellschaft. Und die ist nun einmal immer noch sehr sexistisch geprägt. Konkret braucht es aber innerhalb der Branche sicherlich noch mehr Sensibilisierung und Aufklärung. Wie viele Mitarbeitenden von Medienhäusern wissen zum Beispiel, wohin sie sich wenden können, wenn sie Belästigungen erleben? Wie viele HR-Angestellte sind wirklich ausreichend auf die Thematik geschult, allenfalls gar weitergebildet? Und zusätzlich braucht es eine langfristige Veränderung in unserer Arbeitskultur.

Wie müsste eine solche Arbeitskultur aussehen?
Als ich vor etwa 15 Jahren in den Journalismus einstieg, hatte ich sehr wenige weibliche Vorbilder. Ich hatte das Gefühl, ich muss sein wie die Jungs: Tough, energisch. Ich wollte sein wie Hunter S. Thompson, wer Joan Didion war, wusste ich damals noch gar nicht. Wenn ich heute mit gleichaltrigen Kolleginnen spreche, geht es ihnen häufig ähnlich. Es waren ja auch diejenigen Journalisten, die Jahr für Jahr mit Preisen ausgezeichnet wurden, die diesem Bild entsprachen. Und auch seitens der Chefs gab es durchaus nicht wenige, die dieses «Friss oder stirb»-Ding auf den Redaktionen kultivierten. Es gab lange sehr wenig Platz für anderes. Damit meine ich zum Beispiel eine wertschätzende Unternehmenskultur und Chefinnen oder Chefs, die ihre Angestellten schützen, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufbauen, ihre Anliegen ernst nehmen und Unterstützung bieten. Redaktionen müssen noch viel mehr zu Safe Spaces werden.

Das ElleXX-Team hat eigene Erfahrungen mit Sexismus und Diskriminierung geteilt. Auch «10 vor 10» hat berichtet über die Aktion. Welche Reaktionen haben Sie persönlich erhalten?
Ich war und bin extrem überwältigt davon, wie viele Rückmeldungen wir erhalten haben. Mir haben viele Frauen geschrieben, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Viele haben auch geschrieben, dass sie sich in den letzten Tagen vermehrt mit Kolleginnen über ihre Erfahrungen mit Sexismus ausgetauscht haben und daraus Kraft zogen, sich endlich zu wehren. Das ist schon sehr berührend.

ElleXX ruft Frauen aus der Medienbranche auf, eigene Erfahrungen mit Euch zu teilen. Wie viele Feedbacks haben Sie seither erhalten?
Es sind einige Meldungen per Mail eingegangen, denen wir in den nächsten Monaten genauer nachgehen werden. Auf Social Media sind es weit über hundert Kommentare und Nachrichten. Nicht jede einzelne, jedoch der absolute Grossteil der Erfahrungen, die mit uns geteilt wurden, spielte sich in der Medienbranche ab.

«Generell berührt es mich immer enorm, wenn Frauen den Mut finden, von ihren Erfahrungen zu erzählen»

Welche Erfahrungen haben Sie besonders berührt?
Aus Respekt diesen Frauen gegenüber möchte ich hier keine konkreten Beispiele herauspicken. Ich habe im «10 vor 10»-Beitrag aber einen Kommentar zitiert, den man unter unserem Instagram-Post findet. Generell berührt es mich immer enorm, wenn Frauen den Mut finden, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Das ist nämlich je nach dem nicht so einfach. Es gibt Betroffene, die können gut damit umgehen. Und dann gibt es solche, bei denen jedes Erzählen wieder aufs Neue triggern kann. Und es berührt mich natürlich, wenn Frauen wegen unseres Posts und Roshanis Artikel den Mut gefunden haben, sich zu wehren oder schon nur ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass ihnen Unrecht widerfahren ist.

Was macht ElleXX nun mit diesem Feedback?
Ein paar Frauen haben sich direkt bei uns gemeldet, weil sie mit uns über ihre Erfahrungen sprechen wollen. Dem gehen wir wie gesagt nach. Es gibt aber auch Frauen, die sich einfach per Mail oder Social Media ein bisschen austauschen wollen. Das mache ich dann natürlich auch. Und wir moderieren natürlich nach wie vor die Kommentare auf Social Media. Sie erschlagen einen schier in ihrer Masse. Unter dem Instagram-Post hat sich ein virtueller Ort gebildet, wo Frauen ihre Erfahrungen teilen können und Zuspruch von anderen Betroffenen erhalten.

Welche Massnahmen haben Sie bei ElleXX getroffen, um sexuelle Belästigung oder Diskriminierung zu verhindern?
Naja, wir haben nur Frauen angestellt. Spass beiseite – natürlich können auch Frauen übergriffig sein. Aber: Bei uns im Team sind alle sehr stark sensibilisiert. Natürlich ist das kein automatischer Schutz vor Belästigung. Aber wir geben alle unser Bestes, eine Kultur der «Psychological Safety» zu leben, innerhalb der man Kritik, Fehler, Gefühle und Bedenken auch jederzeit äussern darf. Zudem haben wir mit Agota Lavoyer eine Kolumnistin und Expertin im Boot, die sich bestens mit dem Vorbeugen von Diskriminierungen auskennt.



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