09.11.2017

Journalismustag17

Mit Online-Medien gelebte Demokratie fördern

«Zeit Online»-Chefredaktor Jochen Wegner sprach am Journalismustag in Winterthur darüber, wie Online-Journalismus vom virtuellen zurück in den realen Raum gelangen kann.
Journalismustag17: Mit Online-Medien gelebte Demokratie fördern
Jochen Wegner ist Online-Chefredaktor von «Die Zeit». Er sprach am Mittwoch am IAM in Winterthur. (BIld: Journalismustag17)
von Marius Wenger

«Zeit.de» wurde 1996 gegründet und gilt heute als Vorzeigebeispiel für qualitativ hochstehenden Online-Journalismus im deutschsprachigen Raum. Seit 2013 ist der studierte Physiker und Philosoph Jochen Wegner Chefredaktor. Am Mittwoch präsentierte er am Journalismustag in Winterthur als Keynote-Speaker Experimente, mit denen «Zeit Online» das gegenseitige Verständnis der Menschen fördern und dadurch die Demokratie stärken will.

Von der Filter-Bubble an den Kneipentisch

Ausgehend von der These, dass die Menschen nicht mehr miteinander sprechen und sich nur noch innerhalb ihrer (Online-)Filter-Bubble bewegen, lancierte «Zeit Online» im Frühling 2017 das Projekt «Deutschland spricht». «Wir glaubten nicht, dass Facebook und Fake News die Einstellungen der Menschen effektiv verändern können, echte Begegnungen und persönlicher Meinungsaustausch hingegen schon», sagt Wegner. Innerhalb kurzer Zeit meldeten sich online 12‘000 Personen, die gerne einen Zeit-Leser mit unterschiedlicher politischer Haltung treffen wollten. Die individuellen politischen Grundeinstellungen ermittelte Zeit.de via Kurz-Umfrage mit Ja-Nein-Antworten. Ein eigens entwickelter Algorithmus ermittelte geeignete Paare, so dass sich eines Nachmittags zeitgleich mehrere tausend bis anhin fremde Menschen zum Kaffee oder Bier trafen und ihre unterschiedlichen Meinungen austauschten. «Wir wollten möglichst nicht beobachten, da die Diskussionen dann anders verlaufen wären», sagt Wegner, der selbst auch teilgenommen hatte. Mittlerweile sei eine Plattform in Planung, die es allen Interessierten ermögliche, das Experiment nachzuahmen.

Die Unmobilisierbaren mobilisieren

Zum 20. Jubiläum, das 2016 stattfand, entschied sich «Zeit-Online», nur 20- bis 29-Jährige einzuladen – selbst nicht so recht überzeugt von der Idee, wie Wegner zugibt. «Diese Gruppe ist sowieso nicht mobilisierbar, meinten wir. Zusätzlich erschwerten wir die Bedingungen: Man musste sich mit einer Idee zur Verbesserung der Welt bewerben». Die Initianten wurden eines besseren belehrt: Innert kürzester reichten 5000 Personen ihre Vorschläge für das Projekt namens «Z2X» ein. 500 davon wurden ausgewählt und trafen sich während zwei Tagen und einer Nacht zu Präsentation und Austausch in Berlin. Das Projekt wurde auch dieses Jahr durchgeführt. «Es ist eine Community entstanden, die sich selbst organisiert. Zudem sind Stiftungen auf uns zugekommen, die den Anlass jetzt mitfinanzieren», schwärmt Wegner begeistert.

Das Lokale wieder verstehen

«Überraschend für uns selbst haben wir den Lokaljournalismus sozusagen neu erfunden», sagt Wegner über das Projekt «#D17». Anstoss gaben die medialen Erfahrungen der USA und Frankreich, wo ländliche Gebiete in der Berichterstattung kaum mehr Beachtung fanden, was letzten Endes dazu führte, dass die Erfolge von Trump und Le Pen in den liberalen städtischen Räumen auf grosses Unverständnis gestossen seien. Dieser Entwicklung sollte im deutschen Wahljahr 2017 entgegengewirkt werden. «Wir wollten so tun, als würden wir Deutschland nicht verstehen, und haben uns als erstes selbst nach Hause – in die Orte unserer Kindheit – geschickt», erzählt Wegner. Die dabei entstandenen Geschichten – beispielsweise über «den einsamen Mann im Osten» oder den «TSV Laufdorf» – entwickelten sich schliesslich zu den erfolgreichsten Artikeln des Jahres. Mittlerweile hat «Zeit-Online» ein Lokalreporter-Netzwerk aufgebaut. Mit dessen Unterstützung will man unter anderem auch «Milieus rekonstruieren». «Wir können uns die Rosinen rauspicken – auf diese Weise kann Lokaljournalismus auch auf grösserer geographischer Ebene erfolgreich sein», sagt Wegner.

Was soll Journalismus überhaupt leisten?

Die Wahl von Donald Trump und die daraus resultierende anfängliche Schockstarre der US-amerikanischen Kollegen hätten Wegner zum Nachdenken gebracht: «Ich war im Gegensatz zu vielen amerikanischen Kollegen nie der Meinung, dass der Journalismus Trump hätte verhindern müssen. Doch haben wir uns in der Redaktion oft mit der Frage beschäftigt, ab wann man eigentlich PR für Demokratie machen muss.»

Aus den beschriebenen Experimenten habe man in erster Linie gelernt, dass man als Journalist nicht nur die Welt erklären und beschreiben könne, sondern spielerischer sein dürfe – und trotzdem erfolgreich sein könne.



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