28.05.2021

Kein Rahmenabkommen

Was bedeutet das Scheitern für die Schweiz?

Die einen machen dem Bundesrat schwere Vorwürfe, andere gratulieren ihm sogar. Wie einschneidend ist das Aus fürs Rahmenabkommen mit der EU? Wir haben bei Ressortleiterinnen und Chefredaktoren nachgefragt.
von Matthias Ackeret

Bildschirmfoto 2021-05-27 um 19.17.26

«Mit dem Entscheid des Bundesrates ist ein verkorkstes und unsoziales Abkommen vom Tisch. Gescheitert ist es schon vor Jahren, als FDP-Aussenminister Cassis den Lohnschutz preisgab. Seither konnte es keine Mehrheit mehr geben, die Gewerkschaften leisteten zu Recht Widerstand für Leute mit tiefen Einkommen. Das grundsätzliche Problem war, dass es nur um ein Verwaltungsabkommen ging, ohne politische Phantasie. Nach ungezählten Berichten über rote Linien hoffe ich nun, dass sich der Horizont weitet. Die Schweiz braucht eine europapolitische Debatte, auch über einen EU-Beitritt. Dabei interessiert mich weniger der vermeintliche Gegensatz zwischen der Schweiz und der EU. Sondern wie eine Zusammenarbeit möglich ist, die weltoffen und solidarisch zugleich ist: bei den Steuern, der Migration, dem Klima.»





Bildschirmfoto 2021-05-27 um 19.34.48

«Man kann über den ausgehandelten Rahmenvertrag geteilter Meinung sein: Ich hielt ihn für eine Chance für die Schweiz. Er hätte es ermöglicht, an den Vorteilen des liberalen EU-Binnenmarktes zu partizipieren, ohne die Nachteile einer EU-Mitgliedschaft in Kauf nehmen zu müssen. Dass der Bundesrat sieben Jahre verhandeln lässt und über zwei Jahre diskutiert, um dann plötzlich zum Schluss zu kommen, dass er gar nichts will, halte ich für eine schwer nachvollziehbare und gegenüber der exportorientierten Schweizer Wirtschaft ziemlich verantwortungslose Leistung. Vor allem aber stört mich, dass er überhaupt keine Vorstellungen zu haben scheint, wie sich die Schweiz aussenwirtschaftlich und aussenpolitisch künftig in Europa erfolgreich positionieren soll.»

 


 

Bildschirmfoto 2021-05-27 um 19.24.30

 

«Weit über 40'000 Beiträge spielten Schweizer Medien in den letzten 5 Jahren zum Rahmenabkommen aus. Radio und TV noch gar nicht mitgezählt. Kurzum: Kaum ein Thema nahm uns in den letzten fünf Jahren mehr in Beschlag als unser Verhältnis zu unserer Nachbarschaft. Seit gestern Nachmittag wissen wir: Nice try. Nichts daraus geworden. Weil ein zerstrittener Bundesrat im Gerangel seinen Kompass verlor und Brüssel die Gabe hat, enge Verbündete mit grenzenloser Sturheit vor den Kopf zu stossen. Was jetzt folgt, ist gut für uns Medienschaffende – das Eisen bleibt heiss. Und sonst? Das Nein aus Bern wird zu einer Entfremdung zwischen der Schweiz und Europa führen. Für die Wirtschaft sind das trübe Aussichten, vorab für die Kleinen, die sich keinen Vorposten im EU-Raum leisten können. Ein Ausweg böte womöglich ein ‹Singapore Scenario›, das auf eine Vorwärtsstrategie setzt. Diesen Weg aber wird der verunsicherte Bundesrat nie wagen. Stattdessen wird er auf eine altbekannte Strategie setzen: Durchwursteln. Bis es nicht mehr geht.»





Bildschirmfoto 2021-05-27 um 15.47.11
 

«Das Ende eines Traums: Für die EU-Freunde ist das vielleicht der härteste Tag. Ich sage es ohne Spott. Drei Mal haben sie es versucht, unser Land als Mitglied in die EU zu führen. Das erste Mal (EWR, 1992) so halb ehrlich, das zweite Mal ganz ehrlich (Initiative Ja zu Europa, 2001), das dritte Mal (Rahmenabkommen) verdeckt und unaufrichtig. Alles haben sie versucht, nichts ist geglückt. Guter Rat ist teuer. Nach diesem Abbruch gibt es nur ein Vorher und ein Nachher. Wer noch in die EU will – was einen legitimen Wunsch darstellt –, muss es erneut mit der Brechstange versuchen, also ganz ehrlich. Das dürfte in diesem Jahrtausend nicht mehr gelingen. Es ist ein guter Tag für die Schweiz – aber auch für die EU. Die EU kann sich glücklich schätzen, dass sie es nicht mit diesen sieben überaus fähigen Bundesräten zu tun bekommt. Diese Regierung hat sich um unser Land verdient gemacht.»




Bildschirmfoto 2021-05-27 um 15.24.54

«Nun aber ist die vermeintlich so unabhängige und souveräne Schweiz vollständig den Launen der EU ausgeliefert. Bleibt Brüssel pragmatisch und vernünftig, dann könnte sich der Sturm dereinst wieder legen. Natürlich hat auch die EU ein Interesse an guten Beziehungen zu ihrem viertwichtigsten Handelspartner. Ganz ausgeschlossen ist ein solch milder Verlauf nicht. Doch es wäre naiv, die Bedeutung der Schweiz zu überschätzen. Die EU ist für Bern viel wichtiger als umgekehrt. Und: Die EU hat im Prinzip ganz andere Sorgen, als sich weiterhin ausführlich mit den renitenten Eidgenossen und deren Sonderwürsten herumzuschlagen: Russland, die Türkei, die Migration, der Klimawandel, China, um nur die wichtigsten Herausforderungen zu nennen. Es gibt keine Garantie, dass in Brüssel die Tauben die Oberhand behalten werden, die sich mit der Schweiz auch ohne Rahmenvertrag verständigen wollen. Es deutet im Gegenteil vieles darauf hin, dass die EU ihre Drohungen wahr machen wird. Der bilaterale Weg ist, so wie wir ihn kennen, am Ende. Neue Verträge gibt es keine mehr. Bestehende verlieren Schritt für Schritt an Wert. Wie ein Computer, der kein Systemupdate mehr erhält. Dies hat potenziell sehr negative Folgen für die kleine, offene schweizerische Volkswirtschaft und damit unseren Wohlstand.»


 

 

 


 

Bildschirmfoto 2021-05-27 um 15.20.23

«Das Institutionelle Rahmenabkommen war von Anfang an chancenlos, die Machtdynamik in der Grundanlage immer zum Nachteil der Schweiz. Die Angst zweier FDP-Bundesräte, von der SVP abgewählt zu werden, war nun nur der letzte Sargnagel für diesen Murks. Dessen wahrer Wert bestand nie wirklich in der Perspektive auf ein stabiles Friends-with-Benefits-Verhältnis mit der EU zum Vorteil der Schweiz. So etwas gibt es nicht in der Geopolitik. Der wahre Wert der sieben Jahre andauernden Verhandlungen lag vielmehr in der Prokrastination. So lange man am InstA rumdoktern konnte, musste man sich nicht damit auseinandersetzen, welchen Platz die Schweiz in der Welt langfristig einnehmen soll. Das können und müssen wir – vermutlich unter grösserem Druck – nun tun. So unbequem das auch sein mag.»

 


Bildschirmfoto 2021-05-27 um 15.00.16

«Es ist ein guter Entscheid. Freiheit und Selbstbestimmung sind vorerst gesichert. Das ist die Erfolgsgrundlage der Schweiz, politisch und wirtschaftlich. Mein Lob geht an FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Jetzt gilt es, wachsam zu bleiben. In Brüssel und Bern gibt es immer noch viele Leute, die unser Land institutionell an die EU binden wollen. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich bin für bilaterale, gleichberechtigte Verträge im gegenseitigen Interesse. Aber ich bin dezidiert gegen Verträge wie dieses Rahmenabkommen, welche die Schweiz fremdem Recht, fremden Richtern und fremden Guillotinen unterwerfen wollen. Die politische Unabhängigkeit der Schweiz ist die Voraussetzung ihrer wirtschaftlichen Weltoffenheit und damit ihres Erfolgs.»

 




Bildschirmfoto 2021-05-27 um 14.57.33

«Die Gefahr, dass die Schweiz Eigenständigkeit zugunsten von Zugeständnissen an die EU aufgibt, war sehr real. Umso wichtiger ist der Entscheid des Bundesrates, die Übung abzubrechen. Das mag primär den politischen Realitäten und weniger der Widerstandskraft des Bundesrates geschuldet sein, am Ergebnis ändert es nichts. Der klare Schnitt schafft die Voraussetzung für sektorielle Lösungen mit der EU – und dies zu Konditionen, die für beide Seiten annehmbar sind. Natürlich gibt man sich bei der EU nun zuerst noch verärgert, aber das sollte kein Grund sein, die Fakten auszublenden: Beide Seiten haben ein Interesse an der Fortführung der guten bilateralen Beziehungen, deshalb werden jetzt Lösungen möglich, die bisher als ausgeschlossen galten. Die harte Haltung hat sich ausgezahlt.»

 


Bildschirmfoto 2021-05-27 um 14.15.13

«Dieser Abbruch ist kein Drama. Die Landesregierung will nicht noch mehr Kompromisse mit der EU eingehen, nur um einen Chnorz-Vertrag zu retten – das halte ich für richtig, und es ist kein Drama. Der Reset war nötig, der Deal wäre unfair gewesen. Ein Abkommen, das den EU-Bürgern einen teuren Zugang in unsere Sozialhilfe gewährt und die Schweiz praktisch in die EU integriert, darf unser Land nicht abschliessen. Es geht ebenso nicht, den Lohnschutz auszuhebeln und die Sorgen des Gewerbes nicht ernst zu nehmen. Der Bundesrat macht jedoch mit dem Stopp auch keinen grossen Schritt vorwärts. Brüssel mit Reformen und Geld gnädig stimmen, kann hilfreich sein. Aber zuerst braucht's eine innenpolitische Klärung. Wirtschaft und Parteien müssen nun klar sagen, was sie wollen und wo sie Kompromisse sehen. Sonst gibts niemals eine belastbare Lösung.»


Bildschirmfoto 2021-05-27 um 14.07.38

«Immerhin ein Entscheid: Nach sieben Jahren Durchwursteln hat der Bundesrat endlich Klarheit geschaffen. Er will das Rahmenabkommen in dieser Form nicht. Allerdings präsentiert der Bundesrat keinen richtigen Plan B. Es ist die Ironie der Geschichte: Der Bundesrat will nun eigenständig Differenzen zum EU-Recht abbauen. Ist das wirklich souverän? Die institutionellen Fragen – Streitschlichtung und dynamische Rechtsübernahme – sind mit dem Abbruch der Verhandlungen nicht vom Tisch. Die EU ist die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz, und wir wollen und brauchen den Zugang zu ihr. Die Bilateralen Verträge fallen nicht einfach weg. Es gibt keinen grossen Knall. Wir werden die Konsequenzen des Verhandlungsabbruchs nicht unmittelbar spüren. Die Erosion der Bilateralen ist ein schleichender Prozess. Und das ist mit ein Grund, weshalb die Politik versagt hat.»

 


Bildschirmfoto 2021-05-27 um 14.05.21

«Abbrechen ist keine Strategie. Ich hätte erwartet, dass der Bundesrat gleichzeitig mit dem Verhandlungsende einen Plan präsentiert, wie er nun das Verhältnis zur EU zu gestalten gedenkt. Da kam nichts. Wo ist die Vision, der Aufbruch, die kühne Idee? Dass SVP und Gewerkschaften zusammen im Chor jubilieren, ist originell und gewöhnungsbedürftig.»




Bildschirmfoto 2021-05-27 um 14.02.02

«Der Entscheid des Bundesrats, diese sieben lange Jahre andauernde Schmerzensübung abzubrechen, war überfällig. Und natürlich auch richtig – das wissen alle, die den vorliegenden Entwurf auch tatsächlich gelesen haben. Die Guillotine-Klausel war ebenso ein No-Go wie die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt des Gerichts der Europäischen Union. Ich glaube nicht, dass dieser Entwurf eine Chance gehabt hätte in einer Referendumsabstimmung. Und der Bundesrat offenbar auch nicht. Für die Schweiz ändert sich nichts und für die EU auch nicht: Beide werden weiterhin zweiseitige Verträge abschliessen mit anderen souveränen Staaten und Staatenbünden. Immer dann, wenn ein vorliegender Vertrag im gegenseitigen Interesse ist. Aus meiner Sicht war der vorliegende Rahmenvertrag vor allem im Interesse der Europäischen Union und von jenen Schweizern, die wenig Wert auf Unabhängigkeit und Souveränität legen, sich dafür für eine stärkere Anbindung der Schweiz an die Europäische Union einsetzen.»


Bildschirmfoto 2021-05-27 um 14.09.37

«Unsere Frontschlagzeile lautete am Donnerstag Gratulation an den Bundesrat! – obwohl das Scheitern kein Ruhmesblatt ist. In der jetzigen Situation jedoch ist der Entscheid richtig: Das Abkommen ist nicht mehrheitsfähig, wenn Links, Rechts und die Mitte dagegen ankämpfen. Das unterscheidet die Schweiz von der EU: Ohne Volksmehrheit geht nichts. Jetzt herrscht immerhin Klarheit. Und das ermöglicht neue Lösungen. Erstens, die blockierte Kohäsionsmilliarde freigeben. Zweitens: Schweizer Recht, wo sinnvoll und im Interesse der Schweiz, dem EU-Recht anpassen. Drittens: Den Rauch verziehen lassen und wieder ins Gespräch kommen. Die Schweiz ist auf geregelte Verhältnisse mit der EU angewiesen. Wie die EU reagiert, wissen wir nicht. Was wir aber wissen: Die Schweiz hat in ihrer Geschichte noch immer schnell und flexibel reagiert, wenn der Druck zu gross geworden ist.»

 



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

  • Hansjörg Ryser, 28.05.2021 07:57 Uhr
    Dem Bundesrat und der Schweiz würde etwas mehr Konfliktfähigkeit gut tun. Dann könnten in Verhandlungen auf Augenhöhe tragfähige Lösungen mit unseren Partnerinnen und Partner in Europa erreicht werden. Gesprächsverweigerung ist immer schwach.
Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240426