Der pensionierte Public-Affairs-Experte Roger E. Schärer ist bekannt als besonders fleissiger Leserbriefschreiber. Nun haben die Tamedia-Zeitungen berichtet, dass sich sein Leserbriefschreiben nicht strikt von seinem einstigen Engagement beim Nachrichtendienst des Bundes (NDB) habe trennen lassen. Damals brachte ihm ein Beratervertrag jährlich 60'000 Franken plus Spesen ein. Laut dem Tamedia-Artikel habe Schärer in seinen Beiträgen unter anderem die für den Geheimdienst verantwortliche Bundesrätin Viola Amherd oder den NDB-Direktor Jean-Philippe Gaudin gelobt.
Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Fragen: Nach welchen Kriterien werden Leserbriefe ausgewählt? Wie werden PR-gesteuerte Beiträge verhindert? Und: Werden die Kontrollmechanismen nach dem Fall Roger E. Schärer verschärft? persoenlich.com hat beim Blick, der NZZ, den CH-Media- und Tamedia-Tageszeitungen nachgefragt.
Kaum noch Briefe über Postweg beim Blick
Bei CH Media werden die eingegangenen Schreiben von der Leserbriefredaktion nach diesen Kriterien ausgewählt: Bezug zu einem aktuellen Zeitungsartikel; örtliche Verbundenheit der Verfasserin beziehungsweise des Verfassers; inhaltliche Korrektheit; sachlicher Ton; Länge. «Ausschlusskriterien sind, wenn ein Text voller Schreibfehler ist oder aggressiv bis beleidigend ausfällt», sagt Kommunikationschef Stefan Heini. Auswärtige Verfasser und Leserbriefe zu allgemeinen Themen würden nur berücksichtigt, wenn es genügend Platz habe.
Die Blick-Redaktion erhält Leserbriefe gemäss Sprecher Daniel Riedel «nur noch sehr vereinzelt über den Postweg». Folglich seien die meisten Meinungsbeiträge, die im Blick publiziert würden, bereits zuvor als Online-Kommentare veröffentlicht worden. Von den täglich rund 7000 eintreffenden Diskussionsbeiträgen würde das «extra geschulte» Community-Team prüfen, ob der Beitrag auch den Richtlinien entspricht. Diese sind übrigens bei allen angefragten Medienhäusern sehr ähnlich und entsprechen in den zentralen Punkten jenen von CH Media.
Ausgewählt werden bei Blick die Leserbriefe für den Print vom Produktionsteam, das in Absprache mit den Blattmachern zu täglich jeweils zwei ausgewählten Themenbereichen nach Leserbriefen sucht. «Dabei wird nach Möglichkeit auf ein ausgewogenes Meinungsbild geachtet, damit sowohl Pro- als auch Contra-Stimmen sichtbar werden», so Riedel weiter.
Im Zweifelsfall Absprache mit Fachredaktoren bei NZZ
Bei der Neuen Zürcher Zeitung heisst es zur Auswahl: «Ein Leserbrief sollte inhaltlich einen Mehrwert zum veröffentlichten Artikel bieten», sagt Anja Grünenfelder, Redaktorin Community NZZ. Das könne in Form eines Widerspruchs oder einer Ergänzung sein. «Ausserdem achten wir auf die thematische Vielfalt», so Grünenfelder weiter, die betreffend Kriterien auf die Richtlinien auf der Website verweist, die für alle NZZ-Kanäle gelten. Die finale Auswahl treffe die Community-Redaktion – «im Zweifelsfall in Absprache mit den Fachredaktoren». Die NZZ erhält laut eignen Angaben jeden Tag sehr viele Zuschriften.
Auch bei den Tamedia-Zeitungen gelten betreffend Leserbriefinhalt die gleichen Regeln wie bei den Online-Kommentaren. «Wer sich nicht daran hält, wird nicht publiziert», sagt Kommunikationsleiterin Nicole Bänninger. Sie ergänzt: «Bei der Auswahl der Leserinnen- beziehungsweise Leserbriefe achten wir auf eine möglichst hohe Ausgewogenheit – sei es bei den Themen, der Abbildung unterschiedlicher Ansichten sowie natürlich auch bei den Absenderinnen respektive Absendern selbst.»
Alle Verlage setzen auf Klarnamen
In Sachen Verifikation der Identität der Leserbriefschreiber sagt Bänninger: «Anonyme Leserinnen- beziehungsweise Leserbriefe werden nur in ganz wenigen Ausnahmen berücksichtigt – und zwar dann, wenn es darum geht, die Identität der Person zu schützen.» Nicht veröffentlicht werden gemäss den Richtlinien Kommentare, die unter einem «offensichtlich frei erfundenen Nicknamen» wie «Donald Duck» verfasst werden.
Bei CH Media prüft die Leserbriefredaktion gemäss Stefan Heini mittels Internetrecherche – auch mit Einbezug des elektronischen Telefonbuchs – und/oder Rückfrage beim Verfasser per E-Mail oder Telefon. Im Zweifelsfall werde der Leserbrief nicht abgedruckt. Blick.ch-Kommentarschreiber müssen sich über das Registrationstool One Log anmelden, wobei auch die E-Mail-Adresse verifiziert wird. Gemäss Daniel Riedel werden nur Beiträge unter Klarnamen publiziert.
Und bei der NZZ heisst es zur Verifikation: «In der Regel sind die Angaben des Verfassers korrekt. Sollten wir aus gewissen Gründen die Identität anzweifeln, informieren wir uns in einem ersten Schritt bei unserem Leserservice oder im Internet», sagt Grünenfelder. Gemäss den Richtlinien werden auch bei der NZZ Pseudonyme und falsche Identitäten nicht akzeptiert.
«Eine Interessensdeklaration ist nicht nötig»
Wie werden nun aber PR-gesteuerte Beiträge wie jene auf Leserbriefseiten verhindert? «PR-Leserbriefe werden oft vom Verfasser selbst deklariert», sagt CH-Media-Kommunikationschef Stefan Heini mit Verweis auf solche Beispiele: Parteizugehörigkeit, Unternehmer, Tierschutzorganisation et cetera. Bei der NZZ-Community-Redaktion zahlt sich offenbar die Zusammenarbeit mit den Fachredaktoren aus, sagt doch Anja Grünenfelder: «Sie durchschauen interessensgeleitete Leserbriefe in der Regel sehr schnell. Falls der Brief für die Publikation freigegeben wird, wird der Hintergrund des Verfassers deklariert.»
CH Media und Blick verlangen keine Interessensdeklaration. «Sie ist unrealistisch – und auch nicht nötig», sagt Daniel Riedel, Sprecher der Blick-Gruppe. Denn: «Wer plumpe Werbung für ein Unternehmen, eine politische Person oder eine Initiative machen möchte, wird gelöscht.»
Ähnlich sieht es gemäss den Richtlinien bei Tamedia aus. Demnach werden beispielsweise Kommentare nicht publiziert, die die Leser absichtlich in die Irre führen oder täuschen. Gleich behandelt werden Eigenwerbung, Reklame für kommerzielle Produkte und politische Werbung.
Wie Vielleserschreibern Einhalt geboten wird
Der Fall Roger E. Schärer habe keine Auswirkungen auf den Umgang mit Leserbriefen, wie die Medienhäuser betonen. Der Tenor: Die Kontrollmechanismen hätten sich bewährt, eine Verschärfung sei folglich kein Thema. Heini von CH Media antwortet so: «Herr Schärer durfte seine Interessensbindung ohnehin nicht offenlegen. Das heisst: Weder eine ‹Deklarationspflicht› noch eine Recherche hätten genützt.» Zudem müsse der Aufwand betreffend Leserbriefadministration im Rahmen bleiben. Er sei bereits jetzt schon gross.
Nebst Schärer gibt es auch viele andere – weniger bekannte – Vielleserbriefschreiber. Wie wird verhindert, dass diese die Zeitung als ihr persönliches Sprachrohr nutzen? Bei CH Media gilt gemäss Heini die interne Regelung, «dass pro Monat und Autor maximal ein Leserbrief veröffentlicht wird». Damit werde automatisch sichergestellt, dass ein Autor maximal zwölf Mal pro Jahr eine Plattform erhalte.
Die Blick-Gruppe hält mit einer Statistik fest, wie oft ein einzelner Leserbriefschreiber schon abgedruckt beziehungsweise publiziert wurde. So wird gemäss Riedel gewährleistet, dass niemand überproportional zu Wort kommt. Und auch Tamedia-Zeitungen achten bei der Ausgewogenheit gemäss Nicole Bänninger darauf, dass Personen, die oft Beiträge einreichen, nicht überproportional berücksichtigt werden. Die NZZ geht laut Anja Grünenfelder so vor: «Wir prüfen vor der Publikation in unserem Archiv, wann und wie oft der Leser in den vergangenen Monaten abgedruckt wurde.»
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14.04.2022 15:24 Uhr
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