01.02.2024

Twofold

«Menschen mit Autismus sind immer ehrlich»

Die Zürcher Branding-Agentur ist an den Anthem Awards in New York ausgezeichnet worden. In der Agentur arbeiten viele Menschen mit Autismus oder ADHS. Twofold-CEO Noé Robert und COO Marius Deflorin über den Alltag in einem neurodiversen Team.
Twofold: «Menschen mit Autismus sind immer ehrlich»
«Es wäre schön, wenn die Gesellschaft Dingen, die im ersten Moment ‹anders› wirken, mit mehr Offenheit entgegentreten würde, anstatt sie abzulehnen»: Noé Robert, CEO von Twofold (links), und Chief Operating Officer Marius Deflorin. (Bilder: zVg)

Noé Robert, Sie bezeichnen Twofold als die weltweit erste neurodiverse Agentur. Was macht die Agentur so einzigartig?
Noé Robert: Es gibt natürlich bereits Agenturen wie zum Beispiel Accenture Song, die das Thema Neurodiversität innerhalb der Firma bewusst fördern. Bei uns ist Neurodiversität jedoch die Grundlage bei allen Teams, vom Lernenden bis zur Geschäftsleitung. Mit unserer Academy bilden wir zudem künftige Talente aus und haben so eine Auswirkung auf die Zukunft der Werbebranche. Dieses Modell ist weltweit einzigartig.

Und dafür wurde Twofold nun an den Anthem Awards in New York ausgezeichnet: Silber in der Kategorie «Diversity, Equity & Inclusion». Was bedeutet Ihnen dieser Gewinn?
Robert: Beim Start unserer Transformation vor vier Jahren wurden wir oft etwas belächelt. Als Asperger AG wurden wir eher als Stiftung angesehen, die einen Flyer gestalten kann, nicht aber als fähig, für globale Konzerne Multi-Channel-Erlebnisse zu entwickeln. Zu Beginn lag der Fokus deshalb darauf, als Agentur mit einem hohen Qualitätsstandard kompetitiv zu sein. Die Auszeichnungen, die folgten – wie German Design Award, Drum Experience Award, iF Nomination, Brand Ex Nomination et cetera –, waren eine Bestätigung. Der Anthem Award zeichnet Twofold jedoch als fortschrittliches Unternehmen aus, welches ein zukunftsträchtiges Agenturmodell entwickelt hat. Mit Blick auf den Level der anderen Einreichenden – wie Google oder Pepsi – sind wir sehr stolz darauf, diesen Award gewonnen zu haben.

Sie erwähnen es: Im Jahr 2020 wurde aus der Asperger AG die Agentur Twofold (persoenlich.com berichtete). Hat sich die Neuausrichtung gelohnt?
Marius Deflorin: Die Neuausrichtung und die damit verbundene Transformation hat sehr viel Energie gekostet. Wir spüren jedoch nun im fünften Jahr auf allen Ebenen, wie sich das Investment gelohnt hat, und freuen uns sehr darüber, was in der kurzen Zeit alles entstanden ist.

Twofold beschäftigt laut Website rund 50 Mitarbeitende. Wie definieren sie «neurodivers»?
Deflorin: Als neurodivers sehen wir die Kombination aus allen Arten von Denkweisen, also «normal» denkende Menschen und neurodivergente Menschen mit einer anderen Denkweise, also zum Beispiel Autismus, ADHS et cetera. Gemeinsam sind wir neurodivers. In einem Querschnitt sind wir bei circa 50 Prozent neurodivergent und 50 Prozent neurotypisch, wobei der Anteil neurodivergenter Menschen in der Academy mit den Lernenden etwas höher ist.

Ist es zu persönlich, wenn ich Sie frage, ob sie neurodivergent sind?
Robert: Nicht mehr, seit ich bei Twofold arbeite (lacht). Ich wurde als Kind mit ADHS diagnostiziert. Meine Schulkarriere und auch die berufliche Karriere war dementsprechend für alle Beteiligten manchmal anstrengend. Mittlerweile habe ich jedoch Strategien entwickelt, meine Art des Denkens in eine Stärke umzuwandeln und neben den Schwächen vor allem die Stärken zu sehen. Dies geht auch anderen Mitarbeitenden in unserer Firma so, sie «outen» sich immer mehr offiziell, was für mich zu den schönsten Momenten der letzten vier Jahre zählt.

Deflorin: Ich bin, soweit ich weiss, neurotypisch – also «normal» –, hatte jedoch immer eine sehr eigene Art zu denken.

Wie soll die Gesellschaft generell mit neurodivergenten Menschen umgehen?
Deflorin: Es wäre schön, wenn die Gesellschaft Dingen, die im ersten Moment «anders» wirken, mit mehr Offenheit entgegentreten würde, anstatt sie abzulehnen. Wir werden oft gefragt, was wir neurodivergenten Menschen beibringen. Ehrlich gesagt, haben wir jedoch mehr von ihnen gelernt als umgekehrt. Als Beispiel: Menschen mit Autismus sind immer ehrlich. Wenn man mit dieser Ehrlichkeit umgehen kann, nicht sein Ego in den Vordergrund stellt und zuhört, steigert das die Effizienz. Anstatt Inseln für Menschen zu schaffen, sollten wir alle gemeinsam arbeiten und uns mehr bewusst sein, dass wir alle Individuen sind.

«Unsere Mitarbeitenden bringen mit ihren unterschiedlichen Denkweisen einen riesigen Mehrwert in unsere Projekte»

Was zeichnet neurodivergente Menschen aus? Man sagt, sie können über den Tellerrand hinausschauen.
Deflorin: Das ist sehr individuell und schwierig zu generalisieren. Alle Formen von neurodivergenten Denkweisen sind in einem Spektrum, nicht alle haben die gleichen Fähigkeiten, Talente oder Ausprägungen.

Und welche Vorteile hat das nun für Sie als Agentur?
Robert: Gerade in der Agenturwelt suchen wir doch immer wieder nach neuen und innovativen Ansätzen für unsere Kunden. Unsere Mitarbeitenden bringen mit ihren unterschiedlichen Denkweisen einen riesigen Mehrwert in unsere Projekte. Das kann in einer Strategiephase sehr hohes analytisches Wissen und eine detailorientierte Herangehensweise von einem Menschen mit Autismus sein, bei der Kreation eine unglaubliche Vielfalt in der Konzeption sein, zum Beispiel von einem Mitarbeitenden mit ADHS. Wie bereits gesagt, ist es jedoch schwierig zu generalisieren.

Wie unterscheiden sich die von Ihrer Agentur entwickelten Markenerlebnisse von solchen aus herkömmlichen Agenturen?
Robert: Unsere «No Bullshit»-Policy, die wir als Team leben, überträgt sich auch auf die Zusammenarbeit mit Kunden. Bei einem Briefing hinterfragen wir den Status quo, teilen unsere Meinung und arbeiten gemeinsam mit unseren Kunden zum Ziel. Dies widerspiegelt sich im Outcome und der Qualität unserer Projekte oder führt manchmal auch dazu, dass man nicht mit uns arbeiten möchte (lacht).

Twofold ist in Zürich ansässig, mit Hubs in London, Lissabon, New York und Singapur. Wie verteilt sich die Zahl der Mitarbeiter auf die diversen Standorte?
Robert: Wir sind da sehr transparent. Die Hubs im Ausland sind Flex Offices. Wir hatten in verschiedenen Pitches mit global agierenden Firmen gemerkt, dass man mit einem ausschliesslichen Standort in Zürich wenig Chancen hat, zum Beispiel eine globale Employer-Branding-Kampagne auszurollen. Im Ausland haben wir Full-remote-Teams, die nach Bedarf für Projekte hinzugezogen werden. Wir sind aktuell mit unserem Kunden Heidiseum in der Planung von Ausstellungskonzepten in Asien, aus dem Hub in Singapur können wir diese begleiten und mit lokalen Teams umsetzen. Zusätzlicher Vorteil für die Mitarbeitenden in Zürich ist: Sie können auch zeitweise von einem der Hubs aus arbeiten.

Mit der hauseigenen Academy fördern Sie neurodivergente Talente. Könnten sich diese Talente in einer «normalen» Agentur nicht richtig entfalten?
Deflorin: Unsere Gründerin Susan Conza hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Dies war auch mit Autismus möglich. Support hat sie jedoch am meisten beim Start der Karriere vermisst – als Beispiel: zwischenmenschliche Interaktionen, bei denen ein Mensch mit Autismus gewisse Schwierigkeiten in der «normalen» Arbeitswelt haben kann. Die Gesellschaft, speziell in der Schweiz, ist noch nicht genug sensibilisiert auf solche Thematiken. In der Academy haben die Lernenden für diese Dinge zum Beispiel einen Job Coach, der sie begleitet. Der Abschluss ist dann ein offizielles eidgenössisches Diplom, somit sind sie dann definitiv bereit, in der Arbeitswelt so richtig durchzustarten.

Was kann die Werbebranche – oder generell die Arbeitswelt – von Twofold lernen?
Robert: Wir halten bei verschiedenen Firmen und Universitäten Vorträge, wie wir unseren neurodiversen Alltag erleben und gestalten. Angefragt werden wir dabei, weil Firmen mehr darüber wissen möchten, wie man mit neurodivergenten Menschen umgehen soll. Eines unserer Lieblingsbeispiele ist eine alltägliche interne Meeting-Situation. In diesen Meetings gibt es bei uns keinen Small Talk, keinen Platz für Egos, keine Politics, und man hat die Möglichkeit, sich aus dem Meeting zu entfernen, wenn man nicht benötigt wird. Auf die grösste Begeisterung, Meetings so zu führen, stösst dieses Beispiel bei «normalen» Mitarbeitenden.

Deflorin: Wir haben gelernt, dass viele Dinge, die wir aufgrund von Rücksicht gegenüber unseren neurodiversen Teams machen, eigentlich für alle einen Vorteil bringen, Projekte effizienter und besser machen und viele alltägliche Stresssituationen reduziert werden können.

Sie möchten die Arbeitswelt Schritt für Schritt verändern. Wird es eines Tages eine Agentur wie Twofold gar nicht mehr brauchen, weil Diversität längst zur Normalität geworden ist?
Robert: Das wäre unser Traum vom gelebten Individualismus. Es braucht jedoch gerade im Bereich Employer Branding Unterstützung, wie Veränderungen stattfinden, vorwärtsgebracht, richtig sichtbar gemacht und gelebt werden können.

Deflorin: Wenn sich die Arbeitswelt der Zukunft in diese Richtung entwickelt und wir nicht mehr die einzige Agentur dieser Art sind, ist unsere Mission erfüllt, und wir können uns ausschliesslich darauf konzentrieren, was wirklich zählt: spannende Projekte mit inspirierenden Menschen umzusetzen.


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