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Die Macht des Kundenkontakts

Ist Ihnen auch aufgefallen, wie alle über ChatGPT, Gemini und DeepSeek reden – aber nur wenige über eines der wirklich spannenden KI-Projekte der letzten Woche? Amazon hat mit Alexa+ einen Schachzug gemacht, der eine fundamentale Wahrheit der KI-Revolution offenbart: Die wahre Macht liegt nicht bei den Schöpfern der Sprachmodelle, sondern bei denen, die den direkten Kundenkontakt halten.

Die Transformation des digitalen Butlers

Was Alexa+ ausmacht, ist nicht nur eine Auffrischung der mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen Sprachassistenz. Es ist eine komplette Neuerfindung dessen, was digitale Assistenten können sollten – zumindest laut Amazons Ankündigung.

Die neue Alexa ist personalisiert wie nie zuvor: Sie kennt Ihre Amazon-Geschichte, Ihre Vorlieben und Gewohnheiten – und kann diese mit dem gesamten Amazon-Ökosystem verbinden. Besonders eindrücklich ist die angekündigte Fähigkeit zur tatsächlichen Aufgabenerledigung: Alexa+ kann nicht nur Ihren Kühlschrank mit Amazon Fresh auffüllen oder Sie über neue Taylor-Swift-Tickets informieren – sie kann auch selbstständig einen Handwerker für Ihr tropfendes Waschbecken organisieren, indem sie im Web nach passenden Anbietern sucht, einen Termin vereinbart und Ihnen meldet, wenn alles erledigt ist.

Über Ring sollen Sie prüfen können, ob Ihr Paket geliefert wurde, über Fire TV direkt zu Ihrer Lieblingsszene in einem Film springen oder Ihre personalisierte Playlist nahtlos durch alle Echo-Geräte im Haus wandern lassen. Dies sind keine isolierten Features mehr – es ist ein komplett vernetztes Erlebnis, das nur ein Anbieter mit Amazons breiter Produktpalette, tiefer Kundendatenbasis und Integrationsfähigkeit mit Drittplattformen anbieten kann.

Wer die Beziehung hält, hat die Macht

Und hier wird es strategisch interessant: All diese Fähigkeiten basieren nicht etwa ausschliesslich auf einem proprietären KI-Modell von Amazon. Stattdessen setzt Alexa+ auf einen modell-agnostischen Ansatz. Es verwendet sowohl Amazons eigenes KI-Modell Nova als auch Claude von Anthropic – je nachdem, welches für die jeweilige Aufgabe besser geeignet ist. Dieser Ansatz geht noch weiter: Alexa+ integriert auch spezialisierte KI-Modelle wie Suno für Musikgenerierung und orchestriert eigenständig den Einsatz verschiedener KI-Fähigkeiten, um nahtlose Kundenerlebnisse zu schaffen.

Amazon positioniert sich damit nicht als reiner KI-Schöpfer, sondern als Vermittler zwischen Konsumenten und KI-Fähigkeiten. Als Gatekeeper, der die strategische Macht hat, Erlebnisse zu schaffen, die für Kunden echten Mehrwert bieten – und das mit einer Reichweite von Abermillionen.

Was wir hier sehen, ist eine fundamentale Verschiebung: Die Anbieter der Sprachmodelle werden zu einem Versorgungsunternehmen – wie ein Stromlieferant oder eine Krankenkasse in der Grundversicherung. Sie erbringen einen zwar essenziellen, jedoch mehr oder weniger standardisierten Dienst – aber die Differenzierung findet nicht dort statt. Sie findet an der Kundenschnittstelle statt, wo die Daten, der Kontext und die Beziehung existieren.

Für viele Unternehmen ist das eine Offenbarung: Es geht nicht primär darum, welches KI-Modell Sie einsetzen, sondern wie Sie Ihre einzigartigen Kundenbeziehungen nutzen, um KI-gestützte Erlebnisse zu schaffen, die nur Ihre Marke liefern kann.

Ihre Chancen als Marketer und CX-Leader

Diese Entwicklung eröffnet Ihnen als Marketing- und Kundenerlebnis-Verantwortliche völlig neue Möglichkeiten. Mit diesen neuen Werkzeugen können Sie Kundenerlebnisse gestalten, die bisher unmöglich waren.

Entscheidend ist dabei das Verständnis, dass Ihre Kunden ihre eigenen Pläne und Ziele haben – und dieser «Customer Purpose» ist meist wichtiger als Ihr Unternehmens-Purpose. Nur wenn Sie verstehen, was Ihre Kunden wirklich erreichen wollen, können Sie KI-gestützte Lösungen entwickeln, die wirklich relevant sind.

Stellen Sie sich einmal Folgendes vor:

  • Ein Werkzeug, das aus komplexen Finanzberichten verständliche, persönliche Handlungsempfehlungen generiert, die auf die tatsächliche Lebenssituation und das Fachwissen des Kunden zugeschnitten sind.

  • Ein virtueller Shopping-Concierge, der nicht nur Produkte empfiehlt, sondern auch erkennt, wann der Kunde unschlüssig ist – und genau die richtigen Fragen stellt, um bei der Kaufentscheidung zu helfen.

  • Ein intelligenter Versicherungsassistent, der proaktive Anpassungen vorschlägt: etwa den Wechsel von Vollkasko auf Teilkasko bei älterem Fahrzeug oder eine Hausratdeckungserhöhung nach Berufseinstieg – selbst wenn einzelne Vorschläge das Prämienvolumen kurzfristig reduzieren.

  • Eine Gesundheits-App, die nicht nur Fitness-Daten sammelt, sondern gemeinsam mit dem Nutzer Ziele entwickelt, motiviert und personalisierte Gesundheitspläne erstellt – die dynamisch an Fortschritte angepasst werden.

Doch bei all diesen spannenden Möglichkeiten ist es wichtig, nicht in nebulöse Ideen-Brainstormings zu verfallen. Stattdessen sollten Sie systematisch nach den wahren Friktionen im Leben Ihrer Kunden suchen und verstehen, welche konkreten Probleme mit KI tatsächlich besser gelöst werden können.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt dabei in der Verknüpfung verschiedener Talente. Wirklich bahnbrechende Kundenerlebnisse entstehen durch synthetische Verbindungen zwischen Rollen wie Produktentwicklern, Menschenverstehern, KI-Spezialisten und Datenexperten. Diese Art der Zusammenarbeit schafft etwas, das keiner allein erreichen könnte – genau wie Bill Bernbach in den 1950ern die Werbebranche revolutionierte, indem er Texter und Art Director zusammenbrachte.

Jetzt handeln, nicht abwarten

Die Botschaft von Amazon könnte nicht klarer sein: Das Zeitfenster ist jetzt. Während viele Unternehmen noch darüber nachdenken, welches KI-Modell sie verwenden sollen, verlieren sie wertvolle Zeit, in der sie ihre bestehenden Kundenbeziehungen hätten nutzen können, um einzigartige Erlebnisse zu schaffen.

Ob Sie Detailhändler, Finanzinstitut, Gesundheitsdienstleister oder B2B-Unternehmen sind: Ihre bestehende Kundenschnittstelle und Ihr Kundenverständnis sind Ihre wertvollsten Ressourcen in dieser neuen KI-Wirtschaft.

Stellen Sie sich einfach mal folgende Frage: Welches KI-gestützte Erlebnis könnten Sie in den nächsten 90 Tagen schaffen, das für andere unmöglich zu replizieren wäre, weil nur Sie die Kundenbeziehung, die Daten und den Kontext haben, um es zu liefern?

Die Antwort darauf könnte Ihr nächster Wettbewerbsvorteil sein. Nicht weil Sie die beste KI haben – sondern weil Sie am besten verstanden haben, wie Sie KI für Ihre Kunden wertvoll machen und dabei gleichzeitig Ihre «Big Idea» verkörpern.


Thomas Ruck ist Experte für kundenerlebnisgetriebene Unternehmenstransformation und Autor von «Wachstum durch Kundenerlebnis».

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 

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KOMMENTARE

Ueli Custer
04.03.2025 08:27 Uhr
Um Himmels Willen! Nie im Leben möchte ich meinen Alltag durch einen Datenkraken aus den USA gestalten lassen. Ohne persönliche Kontakte stirbt unser Leben-
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