«Marketing ist am nächsten am Kunden dran», «Marketing versteht den Kunden am besten», «Marketing ist die Stimme des Kunden» – diese Mantras hören wir täglich. Aber stimmt das auch?
Schauen wir uns die Realität an: Marketers leben heute in einer Welt aus Datenvisualisierungen, Brand-Kampagnen und Zielgruppensegmenten. Sie analysieren Klickraten, entwickeln Kreativ-Briefings und erstellen Buyer-Personas. Alles wichtig, keine Frage. Aber wann haben sie zuletzt potenzielle Käufer ihrer Produkte und deren Probleme persönlich erlebt?
Verkäufer hingegen? Die stehen täglich an der Front. Sie hören die Zweifel, die Ängste, die wahren Beweggründe. Sie erleben, wie und warum Menschen wirklich Entscheidungen für ihre Produkte treffen – oder dagegen.
Das Spezialisierungs-Dilemma
Hier liegt ein fundamentales Problem moderner Unternehmensorganisation: Je grösser Firmen werden, desto spezialisierter werden die Funktionen. Marketing entwickelt sich immer weiter weg vom eigentlichen Kernzweck – Menschen dabei zu helfen, Fortschritt in ihrem Leben zu machen. «Product» stand nicht umsonst an erster Stelle der vier Ps im Marketing. Stattdessen beschäftigt sich Marketing heute meist nur noch mit «Promotion»: Kampagnenperformance, Brand Awareness, Lead-Generierung.
Verkäufer hingegen haben keine Wahl. Sie können sich nicht in funktionsspezifischen Theorien verstecken. Entweder sie helfen dem Menschen vor ihnen, oder der Verkauf kommt nicht zustande. Punkt.
Der grosse Irrtum über Demand
Hier kommt der Knackpunkt: Marketing glaubt oft, es könne beliebig Nachfrage erschaffen. Klar, clevere Kampagnen können Aufmerksamkeit wecken und vereinzelt sogar neue Bedürfnisse schaffen. Aber nachhaltige Nachfrage entsteht nur dort, wo Menschen ein echtes Problem haben, das sie lösen müssen. Und wer kennt diese Probleme am besten? Die Person, die täglich mit Menschen spricht, die vor diesen Problemen stehen.
Sales-Profis verstehen etwas Fundamentales: Menschen kaufen keine Produkte. Sie kaufen Fortschritt und Lösungen. Sie nutzen ein Produkt oder eine Dienstleistung, um einen bestimmten Zweck in ihrem Leben zu erfüllen – ihren Customer Purpose.
Die Snickers-Erkenntnis
Ein klassisches Beispiel: Snickers hätte als «Erdnuss-Schokolade» oder «Schokoladen-Riegel» vermarktet werden können – wie unzählige andere Süsswaren auch. Stattdessen erkannte man durch echte Kundengespräche den wahren Customer Purpose: «Wenn ich Hunger habe und schlecht gelaunt werde, aber keine Zeit für eine richtige Mahlzeit habe, brauche ich schnell etwas Sättigendes, damit ich mich ungestört auf meine Aktivitäten konzentrieren kann.»
Die Konkurrenz war also nicht Milky Way oder Kit Kat, sondern jede andere schnelle Lösung für akuten Hunger: ein Sandwich, eine Banane oder einen Kaffee.
Aus dieser Erkenntnis entstand «You're not you when you're hungry» – eine Positionierung, die Snickers vom austauschbaren Schokoriegel zum spezifischen Problemlöser für Heisshunger-Momente machte. Das Ergebnis? Enormer kommerzieller Erfolg und eine Kampagne, die heute noch läuft.
Aber woher kam diese Erkenntnis? Nicht aus einem Dashboard, einer Persona oder einer kreativen Idee. Sondern aus den Insights aus echten Gesprächen mit Menschen, die Snickers in ganz spezifischen Situationen kauften und konsumierten.
Von Push zu Pull
Marketing funktioniert heute viel zu oft nach dem Push-Prinzip: Wir erschaffen Aufmerksamkeit, treiben Traffic in einen Funnel und «übergeben» dann an Sales zur Conversion. Aber das ist rückwärts gedacht.
Die erfolgreichsten Unternehmen funktionieren andersherum: Sie beginnen mit dem Verständnis, welchen Fortschritt Menschen machen wollen. Daraus entwickeln sie Produkte und Services – oder anders ausgedrückt: Lösungen. Und erst dann kommunizieren sie darüber – authentisch, weil sie wirklich verstehen, wovon sie sprechen.
Diese Unternehmen haben erkannt: Verkaufen bedeutet nicht überreden. Verkaufen bedeutet helfen. Und wer wirklich hilft, braucht weniger «Marketing» im traditionellen Sinne.
Die neue Marketing-Sales-DNA
Was heisst das konkret? Erfolgreiche Organisationen integrieren Marketing und Sales nicht nur organisatorisch, sondern konzeptionell:
Erstens: Marketer verbringen Zeit mit echten Kunden. Nicht nur in Fokusgruppen, sondern in echten Kaufsituationen, bei echten Problemen.
Zweitens: Sales-Erkenntnisse fliessen direkt in die Produktentwicklung und Kommunikationsstrategie ein. Was Sales täglich hört, formt das Marketing von morgen.
Drittens: Beide Funktionen messen sich am gleichen Ziel: Wie gut helfen wir Menschen dabei, den Fortschritt zu machen, den sie sich wünschen? Sie optimieren Customer Performance Indicators – Metriken, die messen, wie erfolgreich das Unternehmen für seine Kunden arbeitet.
Das Ende des Silos
Die Wahrheit ist unbequem: In einer Welt, wo jeder «kundenzentriert» sein will, sind ausgerechnet die Marketing-Abteilungen oft am weitesten vom echten Kunden entfernt. Sie leben in datenbasierten Abstraktionen und kreativen Traumwelten, während Sales in der Realität arbeitet. Ausgerechnet die visionäre, innovative Kreativ-Funktion ist weiter weg vom Kunden als die vermeintlich simpel gestrickte und oft etwas belächelte Verkaufsabteilung.
Aber hier liegt auch die grosse Chance: Unternehmen, die ihre Marketing- und Sales-Funktionen wirklich integrieren, schaffen einen enormen Wettbewerbsvorteil. Sie verstehen nicht nur, was Kunden tun, sondern warum sie es tun.
Der Reality-Check
Hier ist also die entscheidende Frage: Wann haben Sie das letzte Mal einen Kunden über sein Problem sprechen hören?
Falls «schon lange her»: Setzen Sie sich morgen mal zu Ihren Sales-Kollegen – und legen Sie den Grundstein für eine synthetische Verbindung.
Thomas Ruck ist Experte für kundenerlebnisgetriebene Unternehmenstransformation und Autor von «Wachstum durch Kundenerlebnis».
Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.
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Marketing kennt den Kunden? Von wegen!