29.09.2023

Schauspielhaus Zürich

«Es ist sehr wichtig, die Stimme zu erheben»

Sie ist die erste Diversitätsagentin in der Schweiz: Yuvviki Dioh. Am Freitag eröffnet die 31-Jährige das Reporter:innen-Forum Schweiz als Keynote-Speakerin. Im Interview spricht sie unter anderem über Diversität in der Berichterstattung und strukturelle Diskriminierung.
Schauspielhaus Zürich: «Es ist sehr wichtig, die Stimme zu erheben»
«Fragen der Diversität haben scheinbar noch wenig strukturellen Einzug in Medieninstitutionen erfahren», so Yuvviki Dioh, Agentin für Diversität am Schauspielhaus Zürich. (Bild: Andrea Ebener)

Yuvviki Dioh, arbeiten Sie in Ihrem Alltag mit Abhörgeräten und Teleobjektiven?
Nein. Auch nicht mit Trenchcoat und Zeitungen mit Augenlöchern.

Sie sind Agentin für Diversität am Schauspielhaus Zürich. Wird Ihre Berufsbezeichnung nicht häufig mit einer Spionin verglichen?
Zum Glück nicht, weil meine Arbeit auch sehr auf Vertrauen aufbaut. Tatsächlich kommt es vor, dass ich als Auftragsvermittlerin für eine diverse Künstler:innenschaft arbeite.

Was genau macht eine Agentin für Diversität an einem Theater?
Ich bin hauptsächlich für die diversitätsorientierte Organisationsentwicklung in den Bereichen Personal, Publikum und Programm zuständig. Das heisst, ich gestalte, leite an, berate, wenn es um Diversitätsfragestellungen in unseren Arbeits- und Produktionsprozessen geht. Ich beschäftige mich momentan unter anderem beispielsweise mit diversitätsorientierten Einstellungsstrategien. Meine Kernaufgabe ist es, mit den Menschen am Haus gemeinsam einen Transformationsprozess hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit anzugehen.

Und wie oft haben Sie in Ihrer Funktion bereits auf Missstände aufmerksam machen müssen?
Wir versuchen laufend, Strukturen und Prozesse hinsichtlich Diversität, aber auch sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu verbessern. Das bedarf einer kontinuierlichen Selbstreflexion auf struktureller und institutioneller Ebene, die sich im hektischen Theateralltag nicht immer einfach gestaltet. Aber diese Arbeit ist zentral. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem Fokus auf lange Sicht Erfolge erzielen können.

Sie eröffnen am Freitag das Reporter:innen-Forum Schweiz mit einer Keynote. Welches wird Ihre Kernaussage sein?
Eine Kernaussage ist sicherlich, dass gerade jene Institutionen, die öffentlich und gesellschaftlich wirksam sind, also etwa in der Bildung, Kunst und Kultur sowie Medien, sich mit Transformationsprozessen hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit – und Nachhaltigkeit – längerfristig strukturell auseinandersetzen müssen. Diese Institutionen funktionieren gleichzeitig als Teil der Gesellschaft und als eine Art Spiegel der Gesellschaft. Wir sind Institutionen, die Öffentlichkeit und Gesellschaft massgeblich mitstrukturieren, dementsprechend haben wir auch eine Verantwortung dafür, wer wie in der Öffentlichkeit und Gesellschaft sichtbar ist.

Sie haben unter anderem Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert und doktoriert. Wenn Sie Schweizer Medien konsumieren: Was fällt Ihnen ganz generell auf, wenn Sie die Diversitäts-Agentinnenbrille aufhaben?
Ich habe doch immer wieder den Eindruck, dass Fragen der Diversität – wie zum Beispiel gesellschaftliche Repräsentationsfragen – scheinbar noch wenig strukturellen Einzug in Medieninstitutionen erfahren haben. Das zeigt sich mir zum Beispiel auch dann, wenn ich betrachte, welche Menschen zu welchen Themen recherchieren, schreiben, publizieren, oder auch, welchen Menschen eine Stimme gegeben wird. Es ist scheinbar – immer noch – so, dass Stimmen aus marginalisierten Gruppen eher selten als Subjekte nachhaltig sichtbar und handlungsmächtig sind: Sei es als Expert:innen zu verschiedensten Themen, sei es als Journalist:innen oder in anderweitig medien-relevanten Funktionen. Marginalisierte Personen werden sogar eher besonders oft in Opferrollen dargestellt. Das ist ein öffentlichkeits- und gesellschaftspolitisches Problem.

«Die mediatisierte Debatte rund um ‹Diversität› leider oft sehr verzerrt und/oder verkürzt vonstattengeht»

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, bei dem ein Medium aus Ihrer Sicht ziemlich alles falsch gemacht hat?
Ein konkretes Beispiel hier auszuführen, würde den Rahmen sprengen. Mir fällt aber gerade immer wieder auf, wie die mediatisierte Debatte rund um «Diversität» leider oft sehr verzerrt und/oder verkürzt vonstattengeht. Das ist für die Diversitätsarbeit, die so schon sehr komplex und herausfordernd sein kann, sehr schädlich, weil wir dann zusätzlich mit konstanten Missverständnissen und Fehlinformationen konfrontiert sind.

Und könnte dies besser umgesetzt werden?
Eine grundsätzlich differenziertere Berichterstattung, die der Komplexität der Thematik auch gerecht wird, würde meines Erachtens eine öffentliche Debatte fördern, die weniger um Moralisierungs- und Intoleranz-Vorwürfe kreist, sondern sich ernsthaft um Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Transformation bemüht.

Intervenieren Sie auch mal bei einem Medium und versuchen aufzuklären?
Es ist auch schon vorgekommen, dass ich bei problematischen Inhalten die dafür zuständige Redaktion darauf hingewiesen habe – als Privatperson und Aktivistin. In der Regel habe ich aber dafür keine Kapazitäten. Solche Einzelhandlungen sind durchaus wichtig, aber ich möchte mich auf strukturelle Veränderungen konzentrieren.

Wie wichtig erachten Sie es, dass Redaktionen divers zusammengesetzt sind?
Aus einem demokratieorientierten Verständnis der gesellschaftlichen Rolle von Medieninstitutionen halte ich es für zentral, dass gerade Redaktionen, aber auch weitere Funktionen in Medienhäusern, divers aufgestellt sind. Institutionen, die so massgeblich relevant sind für die öffentliche Meinungsbildung und Debattenführung, können es sich meines Erachtens eigentlich nicht leisten, nur wenige Lebensrealitäten repräsentiert zu haben. Es müssen mehr verschiedene Stimmen Teil dieser diskursschaffenden Institutionen sein.

«Es braucht eine genaue, kontextabhängige Prüfung, ob Quoten sinnvoll sind oder nicht»

Können Sie an dieser Stelle einmal erklären, was mit einem diversen Team überhaupt gemeint ist? Man hört immer wieder Begriffe, die mit «Quoten-» beginnen …
Ein diverses Team zeichnet sich dadurch aus, dass verschiedene Lebensrealitäten vertreten sind. Diese Lebensrealitäten können sich auf verschiedene Identitätsdimensionen – zum Beispiel den sozioökonomischen Hintergrund, sozialen Status – beziehen. Aus einer diskriminierungssensiblen respektive kritischen Perspektive geht es vor allem darum, marginalisierte Lebensrealitäten nachhaltig in Teams und mit ernsthaften Partizipationsmöglichkeiten zu inkludieren. Quoten können ein Teil davon sein, müssen es aber nicht. Es braucht eine genaue, kontextabhängige Prüfung, ob Quoten sinnvoll sind oder nicht.

Wie erwähnt, Sie kennen sich mit Kommunikation gut aus. Wie kommuniziert man korrekt, damit man niemand verletzt?
Das ist ein sehr grosses Themenfeld, das sich nicht in wenigen Sätzen einfach beantworten lässt. Im Kontext von sozialer Gerechtigkeit ist es sicher sehr ratsam, sich zu informieren, zu recherchieren und versuchen zu verstehen, warum welche Aussagen, Begriffe, Argumentationen verletzend sind oder sein können. Es gibt inzwischen viel einfach zugängliche Literatur zu vielen verschiedenen Diversitätsthemen. Wenn eine Verletzung passiert, ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen und zu versuchen, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Am Reporter:innen-Forum geht es bei einem Panel auch um das Thema Machtmissbrauch und Sexismus in der Medienbranche (persoenlich.com berichtete). Inwiefern haben diese Themen auch mit Diversität zu tun?
Bei Diversität geht es nicht nur um Repräsentationsfragen, sondern zentral auch um Antidiskriminierungsansätze. Es geht um soziale Gerechtigkeit. Dazu gehört fundamental – gerade in institutionellen Kontexten und gerade, wenn es um strukturelle Veränderung geht –, sich mit Macht- und Hierarchiedynamiken auseinanderzusetzen und solche – auch strukturellen – Missstände wie Sexismus zu benennen, zu analysieren und zu bekämpfen.

Gibt es bei divers zusammengestellten Teams weniger Sexismus?
Ein diverses Team ist nicht automatisch ein Team, in welchem keine strukturelle Diskriminierung stattfindet. Gerade auch für diverse Teams ist es wichtig, sich mit Diversität, mit Antidiskriminierung bewusst und selbstreflektiert auseinanderzusetzen. In diversen Teams ist aber die Chance höher, dass ein grösseres Bewusstsein für solche Fragestellungen bereits existiert, weil eher verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen. Ein Team, das ausschliesslich aus Cis-Männern besteht, wird wahrscheinlich anders mit Fragen von Sexismus umgehen als ein diverseres Team mit Cis-Frauen und nicht-binären Menschen, obwohl wir auch mit dem essentialistischen Trugschluss vorsichtig sein sollten, dass marginalisierte Menschen automatisch eine Haltung und/oder Fachexpertise zu Marginalisierungs- und Diskriminierungsthemen haben.

«Zusammen sind wir stärker und können die Kraft, die es dazu braucht, aufteilen»

Sie wurden im letzten Jahr vom Onlinemagazin Tsüri.ch zur «Tsürcher:in des Jahres» gewählt – in der Laudatio hiess es: «Du bist laut, du bist da.» Sind Sie laut?
JA.

Muss man also seine Stimme erheben, um Missstände anzusprechen?
Missstände zu verschweigen, sie zu ignorieren, führt einfach dazu, dass sie weiter bestehen. Also ist es sehr wichtig, die Stimme zu erheben, aber nicht alleine. Das müssen wir kollektiv machen. Zusammen sind wir stärker und können die Kraft, die es dazu braucht, aufteilen.

Das ist aber nicht zwingend eine typische Eigenschaft von Schweizerinnen und Schweizern …
Ich bin Schweizerin und für mich ist es sehr typisch (lacht). Es kommt darauf an, wen wir als Schweizer:innen sehen. Und die Schweiz hat durchaus auch eine Geschichte respektive Tradition des Widerstands gegen soziale Ungerechtigkeit, wenn wir uns die Solidarisierungsbewegungen mit Arbeiter:innen beispielsweise anschauen. So untypisch ist das nicht.

Zum Schluss: Was für einen Tipp geben Sie jenen Personen, die mit offensichtlichem Rassismus oder auch weniger offensichtlichen Mikroaggressionen konfrontiert werden. Wie soll man kontern?
Rassismusbetroffene – wie ich – haben in der Regel bereits viele individuelle und kollektive Umgangs- und Supportstrategien erarbeitet, wenn sie mit rassistischen Taten und Strukturen konfrontiert werden. Es ist meines Erachtens auch wichtig, dass sich Nicht-Betroffene mit Strategien der Solidarisierung und des Allyship auseinandersetzen. Hier gibt es auch bereits einiges an niederschwelliger Literatur, zum Beispiel von Tupoka Ogette – «Exit Racism now». Tipp an alle: Educate yourself, use your privilege.



Dr. phil. Yuvviki Dioh ist seit Februar 2022 als Agentin für Diversität am Schauspielhaus Zürich tätig. Davor war sie in der (politischen) Kommunikationswissenschaft als Doktorandin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich (IKMZ) beschäftigt.


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