30.03.2023

Pro Infirmis

«Ein blinder Radiomoderator arbeitet genauso gut»

Pro Infirmis will mehr Menschen mit Behinderung ins Parlament bringen. Dazu wurde der Film «Gewöhn dich dran» lanciert. Direktorin Felicitas Huggenberger über die Tonalität der Kampagne und den Mehrwert von gelebter Vielfalt in Redaktionen oder Agenturen.
Pro Infirmis: «Ein blinder Radiomoderator arbeitet genauso gut»
«Eine bewusste und entschleunigte Arbeitsplanung hilft allen Mitarbeitenden, mit oder ohne Behinderung»: Felicitas Huggenberger ist Direktorin von Pro Infirmis. (Bild: zVg)
von Michèle Widmer

Frau Huggenberger, am Freitag diskutierten in der SRF-«Arena» mehrere Menschen mit Behinderung mit. Auch Sie waren mit dabei. Wie haben Sie die Sendung erlebt?
Für mich war es natürlich eine sehr tolle, aussergewöhnliche Sendung. Sie nahm die wichtigsten Forderungen aus der Behindertensession am Nachmittag auf und vertiefte sie. In der «Arena» debattierten Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen und zeigten, dass sie etwas zu sagen haben. Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung in die politischen Prozesse miteinbezogen werden und sich zu allen politischen Belangen äussern können.

Im Vorfeld der Sendung wurde erstmals der Film Ihrer neuen Kampagne im linearen TV gezeigt. Die «Arena» bot den Anliegen von Pro Infirmis eine prominente Plattform. Nebst grossem Lob für die Sendung war dies auch ein Kritikpunkt in den sozialen Medien.
Es sind nicht die Anliegen von Pro Infirmis, sondern von Menschen mit Behinderungen, die in der «Arena» diskutiert wurden – und zwar von und mit Menschen mit Behinderung. Die Behindertensession vom Freitag markierte auch den Start unserer aktuellen Kampagne «Gewöhn dich dran», die das Ziel verfolgt, mehr Menschen mit Behinderungen in die Politik zu bringen. Dass wir diese Botschaft am Tag der Behindertensession in den Medien verstärken wollen, liegt auf der Hand. 

«Die Kampagne steht für einen Paradigmenwechsel: Wir wollen nicht über Menschen mit Behinderungen reden. Sie sprechen für sich selber.»

Im Spot sind Menschen mit verschiedenen Behinderungen in Richtung Bundeshaus unterwegs. Inwiefern waren diese bei der Kampagnenentwicklung eingebunden?
Wir haben die Kampagne in enger Absprache mit unserem Soundingboard entwickelt, einem breit aufgestellten und extern betreuten Gremium von Menschen mit Behinderungen. Das Manifest hinter dem Spot wurde in sehr enger Zusammenarbeit mit diesen Menschen entwickelt und von ihnen abgesegnet. In dem Sinne steht die Kampagne für einen Paradigmenwechsel: Wir wollen nicht über Menschen mit Behinderungen reden. Sie sprechen für sich selber. 

Die Kampagnenaussage «Gewöhn dich dran.» kommt im Film sehr stark, fast schon drohend daher. Warum diese Tonalität? 
Die Botschaft ist klar: Menschen mit Behinderungen sind nicht einfach nur nett. Sie brauchen kein Mitleid. Sie gehören dazu und sie wollen mitsprechen. Diese Haltung kam auch in den vielen Diskussionen mit dem Soundingboard sehr stark heraus. Die Menschen mit Behinderungen in der Schweiz warten schon lange genug auf Verbesserungen, die Tonalität ist also angemessen, auch wenn es keine Drohung ist – es ist eine Ansage.

In der «Arena» war der Ton im Vergleich mit anderen Sendungen eher zahm. Es hätte auch ruppigere Töne vertragen …
Selbstverständlich. Diese Menschen mit Behinderung kandidieren für politische Ämter. Da muss man auch einstecken können. Nationalrat Christian Lohr wird aufgrund seiner Beeinträchtigung in den Debatten sicher nicht mit Samthandschuhen angefasst. Zum Schluss ist es ein politischer Wettbewerb. Wer auf dem Stuhl in Bern sitzt, braucht Durchhaltevermögen und muss einstecken und zuweilen auch austeilen können. Dies gilt für alle Politikerinnen und Politiker gleichermassen, egal ob mit oder ohne Behinderung. 

«In den Redaktionen der Medienhäuser wäre eine angemessene Vertretung von Menschen mit Behinderung wichtig, weil dort viele Themen gesetzt werden»

Sie legen den Fokus aufs Parlament. Wie sieht es in anderen Bereichen aus? Wie gross ist der Anteil von Menschen mit Behinderungen in den Medienhäusern, den Kommunikationsagenturen oder in den Marketingabteilungen von Unternehmen?
Dazu haben wir keine Informationen. Aber vermutlich sind es nicht genügend – das trifft auf alle Branchen zu. In den Redaktionen der Medienhäuser wäre eine angemessene Vertretung von Menschen mit Behinderung wichtig, weil dort viele Themen gesetzt werden. Und die Werbebranche trägt mit ihren Plakaten und TV-Spots viel zur Sichtbarkeit bei. 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben mit einer Behinderung. Das ist ein grosses Publikum.

Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Diese Zahl kommt nicht von uns, sondern vom Bundesamt für Statistik. 

Vor vier Jahren haben Sie die besagte Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung in der Werbung mit einer Kampagne beleuchtet. Was hat sich diesbezüglich getan?
Menschen mit Behinderung sind überall untervertreten. Vor vier Jahren legten wir den Fokus auf die Werbung. Sagen wir es so: Es geht nur langsam voran. 

«Es ist ein Umdenken spürbar, das hauptsächlich auf den Druck von Aussen zurückzuführen ist»

Spüren Sie Bemühungen von bestimmten Branchen oder Unternehmen, Menschen mit Behinderungen stärker zu integrieren?
Es ist ein Umdenken spürbar, das hauptsächlich auf den Druck von Aussen zurückzuführen ist. Die Schweiz hat ein schlechtes Zeugnis von der UNO-Behindertenrechtskonvention erhalten. Der Bundesrat befasst sich aufgrund dessen mit dem Behindertengleichstellungsgesetz, und nimmt – wenn Sie den Fokus auf Arbeitgeber legen – diese mehr in die Pflicht. Es gibt die Sustainability Goals der UNO, an die Grossunternehmen mit internationalen Beziehungen gebunden sind. Und die Invalidenversicherung gewichtet mit jeder IV-Revision die Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt höher. Theoretisch befinden wir uns also im Wandel. Aber die konkrete Umsetzung bleibt sicher noch ein weiter Weg.  

In welchen Jobs in der Medien- oder der Werbebranche könnten sich Menschen mit Behinderungen genauso gut oder vielleicht auch besonders gut einbringen?
Für einen Menschen mit einer Sehbehinderung ist es schwieriger ein Werbeplakat zu beurteilen. Ein blinder Radiomoderator arbeitet jedoch genauso gut. Jeder Job erfordert individuelle Stärken. Auch ich wäre je nach Stelle sicher keine gute Besetzung. Wenn Sie mich in ein statistisches Amt setzen würden, würde ich die nötigen Voraussetzungen auch nicht mitbringen. Es gibt keine Jobs, die speziell für Menschen mit Behinderungen passen oder nicht. Aber es gibt leider sehr viele Jobs, die heute so ausgestaltet sind, dass sie Menschen mit Behinderungen ausschliessen.

«In den Unternehmen sollten Vielfalt und Diversität als Mehrwert betrachtet werden»

Wenn ein Medienhaus oder eine Kommunikationsagentur langfristig erfolgreich Menschen mit Behinderung in seine beziehungsweise ihre Teams holen will: Wie sollten die Verantwortlichen vorgehen?
Man sollte ganz weit vorne anfangen. In der Stellenausschreibung muss klar dargelegt werden, was verlangt wird und dass der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin offen für diverse Teams ist. Der ganze Arbeitsplatz muss hindernisfrei eingerichtet werden. Das ist nicht immer einfach, je nach Gebäude oder IT-Ausstattung braucht es Anpassungen. Es geht aber auch um die Einstellung im Unternehmen.

Können Sie das weiter ausführen?
In den Unternehmen sollten Vielfalt und Diversität als Mehrwert betrachtet werden. SRF hat ja zum Beispiel schon mehrfach mit Jahn Graf zusammengearbeitet, der mit einer Behinderung lebt und erfolgreich moderiert. Da müssen sich beide Seiten im ersten Moment sicherlich auch zuerst aneinander gewöhnen. Dies war auch die Rückmeldung von Jahn Graf zur Vorbereitungswoche mit dem «Arena»-Team. Arbeitsabläufe müssen aneinander angepasst werden. Es braucht ein gegenseitiges aufeinander zugehen. So können Ängste abgebaut werden. Ich bin überzeugt, dass es zum Schluss für alle Beteiligten ein Mehrwert ist.  

Nur die wenigsten haben Erfahrung mit einer Kollegin oder einem Kollegen mit einer Behinderung. Wie erleben Sie diese Zusammenarbeit als Direktorin von Pro Infirmis?
Logischerweise sehr unterschiedlich, je nach Mitarbeitendem mit Behinderung. Aber um Ihnen doch ein Beispiel zu geben: Die Zusammenarbeit kann entschleunigend wirken. Unser verantwortlicher Rechtsdienst macht seinen Job hervorragend, aber er kann mit mir nicht in letzter Minute an den Hauptbahnhof sprinten, wenn das gefragt sein sollte. Aber gerade solche stressigen und vollen Arbeitsabläufe, volle und zu eng getaktete Terminkalender sind für alle Arbeitnehmenden eine Gefahr. Das stressige Arbeitsumfeld führt zu Burnouts. Eine bewusste und entschleunigte Arbeitsplanung hilft somit allen Mitarbeitenden, mit oder ohne Behinderung.

Sandro Brotz wurde in der «Arena» gefragt, warum an seiner Stelle nicht jemand mit Behinderung die Sendung moderiere. Warum wäre das so wichtig?
Es wäre wichtig, dass in Sendungen auf SRF und überall, auch Moderatorinnen und Moderatoren mit Behinderungen sichtbar sind. Aber in den regulären Sendungen, nicht nur für einen Abend als Show. Mit Ihrer Frage stellen Sie ein Fragezeichen dahinter, ob eine Moderatorin oder ein Moderator mit Behinderung die «Arena» meistern könnte. Diese Hürden im Kopf können nur beseitigt werden, wenn Menschen mit Behinderungen in allen Jobs sichtbar sind, auch als ständiger Moderator einer Fernsehsendung. Das ist auch der Inhalt unserer Kampagne: Gewöhnen wir uns daran, dass das selbstverständlich ist.



Newsletter wird abonniert...

Newsletter abonnieren

Wollen Sie Artikel wie diesen in Ihrer Mailbox? Erhalten Sie frühmorgens die relevantesten Branchennews in kompakter Form.

Kommentar wird gesendet...

Kommentare

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240426

Die Branchennews täglich erhalten!

Jetzt Newsletter abonnieren.