29.11.2001

"Das Werbefenster von M6 ist für uns ein grosses Debakel"

Als Gilles Marchand (Bild) vor neun Monaten den Chefsessel von TSR einnahm und der Ringier Romandie den Rücken kehrte, konnte er nicht ahnen, welch stürmische Entwicklung auf ihn zukommen würde. Er muss dem Sender ein neues Gesicht und ebensolche Strukturen verpassen, ihn gegen eine starke französische Konkurrenz verteidigen. Im Interview mit "persönlich rot", das diese Woche erscheint, sagt der 39-jährige Manager, weshalb TV3 scheitern musste, welche Sendungen wir auf TSR in Zukunft erwarten dürfen und wie stark der 11. September sein Verständnis von Journalismus verändert hat. "persoenlich.com" bringt einen Ausschnitt:
"Das Werbefenster von M6 ist für uns ein grosses Debakel"

Monsieur Marchand, Sie sind jetzt seit mehr als acht Monaten Generaldirektor der TSR. Welche Bilanz ziehen Sie?

Eine eher positive. Seit meinem Eintritt in die TSR haben sich viele Dinge ereignet. Wir haben einerseits eine grosse Reform durchgeführt und am 1. März, am Tag meines Eintritts, alles reorganisiert. Wir haben einen Pool für Marketing, Forschung und Kommunikation eingerichtet und eine Reform vorangetrieben, um eine andere Art von Fernsehen entstehen zu lassen. Schliesslich sind wir Ende August von der Konjunktur eingeholt worden, die uns vor viele wirtschaftliche Probleme gestellt hat. Probleme, die einerseits mit der Werbung zusammenhängen, mit der schlechten Konjunkturlage, mit den französischen Werbebedingungen, aber auch wirtschaftliche Probleme, die auf die Gebühren zurückzuführen sind und die uns ab dem nächsten Jahr grosse Schwierigkeiten bereiten werden. So gesehen stehen wir bei der TSR zugleich vor grossen betrieblichen, kulturellen und auch wirtschaftlichen Veränderungen, was völlig unvorhersehbar war, als ich im März begann. Es ist also eine Bilanz einer äusserst befrachteten Periode, aber auch einer sehr reichen und positiven Zeit, mit einer Integration, die auf viel ruhigere und leichtere Art vor sich ging, als ich es in der Tat erwartet hatte.

Wie gross ist Ihr Marktanteil heute?

30.6 Prozent. Das ist eine ausserordentliche Leistung, denn man muss wissen, dass wir nicht denselben Markt haben wie die Deutschschweiz. In der Romandie ist man völlig offen für das, was aus Frankreich kommt. Die Romands lieben geradezu das französische Fernsehen, da sie dort nicht einen Dialekt hören und nicht diese Treue zu einer Kette zeigen müssen, wie es in der Deutschschweiz der Fall ist. Die Deutschschweizer haben überhaupt kein Interesse an der Politik eines Schröder oder eines Joschka Fischer, die Romands dagegen interessieren sich für die Kämpfe zwischen Chirac und Jospin. Zweiter Unterschied: Wir haben im Bereich der bestehenden Kanäle eine enorme Konkurrenz. Wir kämpfen gegen TF1, das 16 Prozent des Marktes hält, die Hälfte von TSR. M6 und die französischen Sender F2 und F3 kommen jetzt je etwa auf zehn Prozent. Wir haben also drei, vier sehr starke Kanäle, die echte Konkurrenten sind. In der Deutschschweiz ist es anders, weil es eine Vielzahl von Kanälen gibt, die aber alle schwächere Quoten haben. Unter diesen Bedingungen 30 Prozent Marktanteil zu halten, scheint mir eine wirklich respektable Leistung zu sein. Dabei hat die TSR in den letzten zehn Jahren dieselbe Position mehr oder weniger halten können, obwohl sich während dieser Zeitspanne der Markt durch die Zahl neuer Kanäle verdrei- oder vervierfacht hat. Ich glaube, dass die 30 Prozent bei TSR der Grösse dieses Kanals entspricht und dass man bei diesen Gegebenheiten nicht 40 Prozent erzielen kann.

Im Januar dürfte das Werbefenster von M6 starten. Experten sprechen von einem Werbepotenzial von zehn bis zwölf Millionen Franken für den französischen Sender. Was bedeutet das für Ihre Strategie?

Das ist ein grosses Debakel. Wir sind zunächst einmal offen für Konkurrenz. Aber wir verlangen, dass diese Konkurrenz loyal ist. Was heisst das, eine loyale Konkurrenz? Damit meine ich, dass diejenigen, die sich im Markt Einnahmen holen wollen, auch Inhalte produzieren müssen. Oder sie müssen die Rechte, die sie in den Markt bringen, bezahlen. Es ist aber absolut ungerecht, keine Senderechte bezahlen zu müssen, keine Minute zu produzieren und ein sehr hohes Werbebudget einzukassieren. Wir sagen Ja zur Konkurrenz, aber nicht, wenn sie "wild" ist. M6 trägt keinen einzigen Franken aus der Werbung bei, der in der Westschweiz investiert werden wird. Das bedeutet, dass die Westschweiz insgesamt ärmer wird – und nicht nur die TSR. Unter dieser Neuverteilung werden auch das Kino, die Plakatwerbung oder die Illustrierten leiden, da das ganze Geld, das M6 ausgeben wird, wieder nach Frankreich zurückgehen wird. Neben diesen Aspekten gibt es auch rechtliche Ungerechtigkeiten, wie beim so genannten Diffusionsrecht. Wenn M6 beispielsweise mit seinem zweiten Signal kommt und in der Schweiz Serien wie X-Files ausstrahlt, zu denen ich die Exklusivrechte für drei Jahre gekauft habe, ist das ebenso unredlich. Gegen diese Art werde ich bis vor Gericht kämpfen.

Obschon der Vergleich zwischen der Deutschschweiz und der Romandie heikel ist: Das RTL-Werbefenster hat uns vor Augen geführt, dass zusätzliche Konkurrenz für die Entwicklung der Umsatzzahlen von publisuisse nur gut sein kann.

Es völlig falsch zu glauben, die Werbefenster der Deutschschweiz wären gut gewesen für publisuisse oder SF DRS. Das ist ein statistischer Irrtum: 1996 waren alle Fenster der Deutschschweiz zugeteilt. Zwischen 1996 und 2000 hat der Deutschschweizer Markt in der Werbung um etwa 54 Prozent zugelegt. Und in derselben Zeit hat SF DRS um zehn Prozent zugenommen. Also beträgt der Unterschied zwischen der Entwicklung des Marktes und derjenigen von SF DRS 40 Prozent. Dass SF DRS von der Zuteilung der Werbefenster profitiert hat, ist ein falscher Mythos. Zweitens ist die Tatsache interessant, dass man sich damals, als die Werbefenster aufgeschaltet wurden, die Frage stellte, ob es auch Inhalte für die Schweiz geben werde. Wenn Sie heute schauen, gibt es für unser Land keine Inhalte mehr. Drittens können Sie den dreimal grösseren deutschschweizerischen Markt nicht mit der Westschweiz vergleichen.



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240427