12.09.2021

20 Minuten

«Die Depression nahm mir Neugier und Freude»

Das Pendlermedium engagiert sich stärker im Bereich «Mental Health». Wie erlebt dies ein Journalist, der selber von einer Depression betroffen war? Remo Schraner, stellvertretender Ressortleiter OneLove bei 20 Minuten, spricht offen über seine psychische Gesundheit.
20 Minuten: «Die Depression nahm mir Neugier und Freude»
«Ich hatte mich dazu entschieden, dass ich nicht einen Teil meiner Vergangenheit verschweigen will», sagt der 30-jährige Remo Schraner, stv. Ressortleiter OneLove 20 Minuten sowie stv. Leiter beim Social Responsibility Board. (Bild: 20min/Michael Scherrer)

Herr Schraner, aussergewöhnlich viele Journalistinnen und Journalisten haben bei 20 Minuten gekündigt. Überrascht Sie das?
Ja. Ich finde es schade, aber auch verständlich. Der Druck bei den Journalistinnen und Journalisten allgemein ist nicht neu, durch Corona wurde dieser aber verstärkt. Die Isolation im Homeoffice war für viele nicht einfach, dazu kamen Kurzarbeit und zunehmend auch Anfeindungen von aussen. Verständlich, dass da einige die Konsequenzen gezogen haben.

Es sei eine «für viele belastenden Phase der Pandemie» gewesen, sagte Chefredaktor Gaudenz Looser zu persoenlich.com. Was konkret war für die Mitarbeitenden so belastend?
Ich kann nur für mich sprechen – hörte von anderen aber ähnliche Feedbacks. Es fiel mir nicht so leicht, bis ich mich im Homeoffice organisiert hatte und klar zwischen Arbeit und Freizeit trennen konnte. Mittlerweile habe ich für mich einen Weg gefunden und geniesse die Arbeit im Homeoffice. Das andere war die Kurzarbeit. Das war gewissermassen gegen die Natur von Journalisten und Journalistinnen: Denn es gab ja nicht weniger zu berichten, sondern viel mehr. Wir mussten also unsere Zeit noch effizienter nutzen und Prioritäten setzen.

«Ich kenne meine Grenzen und weiss, wann ich stoppen muss»

Sie arbeiten seit Mai 2020 wieder bei 20 Minuten. Schon im Bewerbungsgespräch gingen Sie offen mit Ihrer psychischen Gesundheit um. Wie?
Ich hatte mich dazu entschieden, dass ich nicht einen Teil meiner Vergangenheit verschweigen will. Immerhin bin ich doch die meiste Zeit bei der Arbeit. Deshalb erwähnte ich in meinem Lebenslauf meinen privaten Blog «Der Volpe», wo ich über psychische Gesundheit schreibe. Daraufhin wurde ich angesprochen, ob ich der Aufgabe auf der Redaktion gewachsen sei. Für mich ist klar: Gerade aufgrund meiner Erfahrungen mit Depressionen bin ich der Aufgabe gewachsen. Ich kenne meine Grenzen und weiss, wann ich stoppen muss.

Ihre Offenheit hatte Erfolg: Sie erhielten den Job …
Ich hatte nie Angst, dass ich den Job nicht erhalte, nur weil ich offen mit meiner psychischen Gesundheit umgehe. Ich staune aber noch heute, dass meine Vorgesetzten dies von Beginn weg als Ressource gesehen haben.

Das heisst?
Als der Lockdown kam, war die psychische Gesundheit allgemein in der Bevölkerung ein Thema. Auf Wunsch von Gaudenz Looser realisierte ich gemeinsam mit der Wissen-Redaktorin Fee Anabelle Riebeling das Format «Corona im Kopf». Dabei gaben Expertinnen und Experten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich täglich Tipps, wie man psychisch gesund durch die Pandemie kommt. Zudem konzipierten Fee und ich das neue Videoformat «Tipps, Tricks & Mental Health». Hier spreche ich mit Betroffenen über ihre psychischen Erkrankungen und ihre Strategien. Im besten Fall können sie so andere inspirieren. Diese beiden Formate kamen bei den Userinnen und Usern gut an. So entschied sich die Chefredaktion, der psychischen Gesundheit auf 20min.ch einen fixen Platz zu geben. Deshalb wechselte ich im August vom Ressort Story ins Ressort OneLove, das Zora Schaad und ich nun thematisch ergänzen und neu ausrichten.

Fühlten Sie sich von Ihren Vorgesetzen bei 20 Minuten immer verstanden?
Ja, ich sagte von Beginn weg, dass es mir wichtig sei, dass ich ihnen mitteilen kann, wenn es mir energiemässig mal nicht so gut geht – und dass ich dann in dieser Zeit entlastet werde. Denn ich will in solchen Situationen nicht einfach freinehmen müssen, dies würde meine Verfassung meist verschlimmern. Eine solche Situation gab es bislang ein einziges Mal. Rein der Fakt, zu wissen, dass meine Vorgesetzten Verständnis haben, entlastet mich enorm. Mittlerweile sehe mich nicht mehr als depressiven Menschen, es geht mir ziemlich gut. Aber vermutlich werde ich mein Leben lang die Tendenz zu Depressionen haben.

Noch vor drei Jahren stand Ihre Karriere wegen der Depression kurz vor dem Aus. Nun wurden Sie im September zum stellvertretenden Ressortleiter befördert. Was löst das bei Ihnen aus?
Ich bin stolz auf mich, dass ich in all den Jahren mit meiner Depression den Journalismus nicht aufgegeben habe. Meine neue Funktion im Ressort OneLove gefällt mir sehr, und auch als stellvertretender Leiter des Social Responsibility Boards habe ich einen sehr abwechslungsreichen Alltag. Dass ich mir ein solches «Gärtchen» erschaffen konnte, ist ein Privileg, für das ich sehr dankbar bin. Es zeigt mir: Kommuniziert man seine Bedürfnisse offen, stehen die Chancen gut, dass man an den richtigen Ort gelangt.

«In den schlimmsten Momenten spürte ich nicht einmal mehr Emotionen»

Sie leben seit Ihrer frühen Jugendzeit mit Depressionen. Wie äusserte sich dies bislang im Alltag?
Die Depression ist nicht nur eine Energieräuberin, sie nahm mir zeitweise auch meine Neugier und Freude. Und in den schlimmsten Momenten spürte ich nicht einmal mehr Emotionen: Gar nichts zu spüren, nicht einmal Traurigkeit, ist ein Zustand, der kaum auszuhalten ist. Mittlerweile konnte ich mein Frühwarnsystem so sensibel einstellen, dass ich rechtzeitig merke, wenn ich kurz innehalten muss. Auch mein Perfektionismus ist nicht mehr im Fokus. Er treibt mich in einem gesunden Mass an, ich habe aber nicht mehr den Anspruch, Perfektion zu erreichen.

Was gab den Ausschlag, dass Sie ihr Frühwarnsystem so gut kalibrieren konnten?
Der Wendepunkt kam 2018. Damals erhielt ich mein Traumpraktikum beim ZDF in Mainz. Noch vor Antritt des Praktikums musste ich es absagen, weil ich in eine schwere depressive Phase rutschte. So ging ich zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik – und erlebte dort eine unglaublich inspirierende Zeit. Ich fand den Kontakt zu mir selber wieder. Ich spürte, was mir Freude macht und was nicht. Nach zwei Monaten in der Klinik kam ich nach Hause, kündigte meine Wohnung, zog mit meinem Partner zusammen, kaufte mir ein Motorrad, nahm Klavierstunden … Ich machte all das, was ich schon lange wollte. Ich entschied mich, mein Leben neu zu gestalten.

Was heisst das?
Gerade im Beruflichen fehlten mir die Vorbilder. Ich hörte nie von einer Journalistin oder einem Journalisten, dass die Arbeit psychisch belastend sei – bis ich selber damit offen umging. Plötzlich öffneten sich auch Kolleginnen und Kollegen. So entstand eine Gemeinsamkeit und ich hatte die Bestätigung, dass ich nicht alleine bin. Ich fasste den Mut, bereits im Bewerbungsgespräch auf meine Vergangenheit hinzuweisen und klarzumachen, dass ich nur Teilzeit arbeiten will. Ich teilte klar mit, was ich von meinem Arbeitgeber brauche. Das braucht Mut, doch es lohnt sich.

Sie sagten, dass Sie nicht alleine sind. Auch andere empfinden den Job als belastend. Ging die psychische Gesundheit der 20-Minuten-Mitarbeitenden vergessen?
Nein, vergessen ging sie nie. Man musste sich aber überlegen, wie man damit umgeht, wenn die Leute im Homeoffice sind. Das war und ist eine riesige Herausforderung. Wir beim Social Responsibility Board arbeiten mit vielen Fachorganisationen zusammen. Unter anderem hielt die Stiftung Pro Mente Sana bei uns eine Blattkritik und ermöglichte allen Mitarbeitenden einen sogenannten Ensa-Kurs, bei dem Grundwissen über psychische Erkrankungen vermittelt wird. Viele Mitarbeitende nahmen dies in Anspruch. Weiter kam man bei 20 Minuten zunehmend von den alten Strukturen weg: Dass individuell ausgestaltete Hybrid-Office-Lösungen möglich sind, hilft mir selber sehr.

«Im Zweifel gewichten wir die mentale Gesundheit der Mitarbeitenden höher als die Performance»

Es seien nun verschiedene Initiativen gestartet worden, sagte Chefredaktor Looser. Damit sollen «bestehende Unsicherheiten adressiert und Herausforderungen im Bereich Mental Health durch individuelle Lösungen überwunden werden». Geschah dies nicht zu spät?
Es wäre sicher schöner gewesen, wären diese Initiativen früher ergriffen worden – aber wir sind wahrscheinlich die erste Redaktion in der Schweiz, die diesem Thema einen solchen Stellenwert einräumt: Im Zweifel gewichten wir die mentale Gesundheit der Mitarbeitenden höher als die Performance.

Wie beurteilen Sie diese Initiativen?
Ich begrüsse sie natürlich sehr. Klar, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter ist grundsätzlich selber für ihre und seine Gesundheit verantwortlich. Der Arbeitgeber muss aber die nötige Struktur schaffen, sodass es einfacher wird, über seine Probleme zu sprechen – bei 20 Minuten gibt es dafür auch eine Vertrauensperson. Die Pandemie war ja grundsätzlich belastend für den Journalismus.

Inwiefern?
Journalisten und Journalistinnen werden bei Ausseneinsätzen vermehrt angegangen, auch körperlich. Sie erhalten E-Mails mit Hassnachrichten. Der Journalismus ist rundum sehr gefordert. Hier wollen wir Entlastung bieten, auch das Social Responsibility Board ist hier involviert.

Geht es beim Board nicht nur um die nichtverletzende Sprache in der Berichterstattung?
Richtig, dies ist unser Kerngeschäft. Die Chefredaktion hat uns aber bei der Diskussion rund um die Kommentare als beratendes Organ miteinbezogen: Was gilt noch als Meinung, was ist schlicht falsch und wie gehen wir damit um, wenn User und Userinnen unsere Journalistinnen und Journalisten verbal oder schriftlich angreifen? Hier arbeiten wir mit Hochdruck mit unseren Kommentar-Freischaltenden, der IT, der Chefredaktion und Fachorganisationen an Lösungen. Als wichtige Massnahme haben wir kürzlich die Loginpflicht für Kommentare eingeführt.



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