01.05.2013

World Press Photo

"Niemand soll sagen können: 'Wir wussten es nicht.'"

Am Donnerstag Abend öffnet die Ausstellung "World Press Photo" im Zürcher Sihlcity ihre Tore zur Vernissage. Gezeigt wird unter anderen das Siegerbild 2012, welches Anfang Februar in Amsterdam erkoren wurde. Fotografiert hat es Paul Hansen. Der Schwede gewann mit dem Bild einer Gruppe von Männern, welche die Leichen zweier toter Kinder durch eine Strasse in Gaza City tragen. persoenlich.com hat sich mit ihm über die Verantwortung von Journalisten und seine Momente der Angst unterhalten: "Man muss diese Geschichten erzählen, auch wenn es bedeutet, ein Risiko einzugehen".
World Press Photo: "Niemand soll sagen können: 'Wir wussten es nicht.'"

Herr Hansen, herzlichen Glückwunsch zum Award von World Press Photo of the Year. Würden Sie sagen, dass dies das beste Foto ist, welches Sie je geschossen haben?
Nein.

Welches Ihrer Fotos ist dann das Beste?
Jenes meiner Tochter nach ihrer Geburt.

Was sind die Zutaten für ein perfektes Foto?
Ich denke, dass ich noch immer nicht das perfekte Bild geschossen habe. Ich kann meine eigenen Fotos jedoch nur schwer beurteilen, messen oder quantifizieren, denn es mischen meinerseits viele Emotionen mit, die meine Urteilskraft etwas trüben. Zumindest könnte ich keinem meiner Fotos das Prädikat "perfekt“ zuweisen.

Wie arbeiten Sie: Denken Sie nach und lichten dann Ihr Objekt ab oder ist es eher eine intuitive Arbeitsweise?
Beides. Um zu evaluieren, was du siehst, wonach du Ausschau halten sollst und um die richtigen mentalen, physischen und logistischen Vorbereitungen zu treffen, musst du denken und gut recherchieren. Wenn du dann das Bild schiesst, gelten die gleichen Regeln – plus Intuition und Empathie.

Erzählen Sie uns, wie das Siegerfoto entstanden ist.
Mads Gilbert, ein norwegischer Arzt, welcher im selben Hotel wie ich abgestiegen war, erzählte uns in der Nacht vor dem Ereignis eine schreckliche Geschichte: Sie handelte von einer Frau, die mit einem schweren Schädel-Trauma im Krankenhaus lag – gemeinsam mit zwei ihrer verletzten Kinder. Ein israelisches Armeeflugzeug hatte das Haus der Familie bombardiert, es vollständig zerstört und den Ehemann sowie zwei Söhne getötet. Unter anderem erzählte Gilbert von den Sorgen und Ängsten des Krankenhauspersonals, wie er es der Frau beibringen sollte, was mit ihrem Mann und den zwei Söhnen passiert war, als sie wieder ihr Bewusstsein erlangte. Wie bringst du einer Mutter bei, dass ihr Haus zerstört ist und ihr Mann sowie zwei Söhne tot sind? Als mir Herr Gilbert diese Geschichte erzählte, musste ich mit den Tränen kämpfen.

Wie gelangten Sie dann an die Prozession, wo Sie das Foto aufgenommen haben?
Am nächsten Tag, gingen der Reporter Erik Ohlsson und ich auf die Strasse, um die Geschehnisse des Tages einzufangen. Eines davon war die Beerdigung der vielen Opfer der vorangehenden Nacht. Wir gingen zur Leichenhalle des Krankenhauses, welches sich im Flüchtlingslager Jabaliya befindet und trafen auf Angehörige verschiedener Familien, die kamen, um ihre Lieben abzuholen. Wir sahen, dass zwei der Opfer kleine Kinder waren und entschieden uns, derer Beerdigung beizuwohnen. Gemäss der Tradition holen die Familien die Toten morgens von der Leichenhalle ab, danach fahren oder tragen sie sie zum Haus der Familie für eine Zeremonie bevor sie die Toten zur Moschee bringen und sie schlussendlich zu Grabe tragen.

Die Prozession startete bei der Leichenhalle und wir folgten ihr. Es waren noch weitere Journalisten zugegen, die von der Beerdigung berichten wollten. Nachdem wir recht lange mitgelaufen waren, wunderte ich mich, wann die Leute beim Haus der Familie ankommen würden. In diesem Moment war mir klar, dass dies die Familie sein musste, von der der norwegische Arzt Mads Gilbert in der vorangehenden Nacht gesprochen hatte. Der Grund für den langen Marsch, war die simple Tatsache, dass es kein Haus mehr gab, zu welchem die Angehörigen der Toten hätten hingehen können.

Und warum entschieden Sie sich dafür, diese Prozession zu fotografieren?
Als die Trauergemeinde in ein enges Gässchen einbog, formte sich ein längerer Menschenzug, der jetzt eher als Prozession erkennbar war. Ich lief nach vorne und nahm meine Position ein, wo Schatten und Sonnenlicht an die Wände so aufprallten, dass die Szene in ein besonderes Licht getaucht war. Ich drückte drei oder vier Mal ab bevor das Licht wieder verschwand. Es war chaotisch – sowohl innerlich als auch äusserlich.

Wie reagierten die Männer, als sie bemerkten, dass Sie sie gerade fotografierten?
Sie drückten ihre Dankbarkeit aus, dass wir da waren und zeigen würden, was vor sich ging.

Haben Sie mit einigen der Anwesenden gesprochen?
Ich sprach mit wenigen, mein Reporter mit mehreren.

Allgemein: Wie ist das Verhältnis zwischen den Leuten, die Sie ablichten und Ihnen?
Darauf kann ich nicht wirklich eine Antwort geben – jedenfalls nicht in Bezug auf News-Storys. Bei langfristigen Projekten pflege ich den Kontakt zu den Protagonisten der Storys rege und meistens entstehen Freundschaften.

Welche Botschaft wollten Sie mit Ihrem Foto vermitteln?
Dass das Töten von unschuldigen Menschen ein beschämendes Beispiel von politischer Unfähigkeit darstellt.

Mayu Mohanna, ein Mitglied der Jury von World Press Photo of the Year, meinte: "Die Stärke des Bildes liegt im Kontrast zwischen der Wut und der Trauer der Erwachsenen und der Unschuld der beiden Kinder. Das Bild werde ich nie vergessen.“ – Haben Sie diese Wut und die Trauer gespürt?
Ja.

Wie gehen Sie mit Ihren eigenen Emotionen um?
Ich versuche mit möglichst vielen Leuten zu reden. Und meine Frau ist eine sehr gute Person.

Warum sind Sie Fotojournalist geworden? 
Zuerst war es die Magie zu fotografieren und die Kamera wurde zum Werkzeug, um meine eigene Schüchternheit und soziale Isolation zu überwinden. Heute sind diese Faktoren immer noch vorhanden, aber als professioneller Fotojournalist versuche ich, etwas Gutes zu bewirken.

Für Ihre Arbeit reisen Sie in Risikogebiete. Weshalb begeben Sie sich freiwillig in Gefahr?
Ich versuche immer diese Frage zu vermeiden. Als Journalisten sind wir sehr privilegiert. Wir reisen durch Länder und Regionen, die sich im Krieg oder in Krisen befinden, haben den Pass und den Rückreise-Ticket in der Tasche. Wenn uns etwas zustösst, sind wir nur Stunden von der bestmöglichen medizinischen Versorgung entfernt. Aber die Situation der Leute, die in diesen Regionen leben, sollten im Fokus stehen – nicht unser vorübergehender Aufenthalt an diesen Orten.

Ich erinnere mich an einem Dolmetscher, der uns bei der Arbeit einmal sagte, dass es ihm leid tue, dass er nicht den ganzen Tag bei uns in Tripolis bleiben könne. Als wir ihn fragten warum, antwortete er, dass sein Sohn soeben erschossen worden sei und er nach Hause gehen müsse, um die Beerdigung zu organisieren. So sieht man alles aus einer anderen Perspektive.

Haben Sie nie Angst?
Natürlich fürchte ich mich manchmal, aber ich versuche nur kalkulierbare Risiken einzugehen. Man muss versuchen, diese Geschichten zu erzählen, auch wenn es bedeutet, ein Risiko einzugehen. Das ist unsere Verantwortung als Journalisten – niemand soll sagen können: "Wir wussten es nicht."

Gibt es einen Moment der Angst, den Sie nicht vergessen können?
Der Moment der Angst ist üblicherweise ein nachträglicher Einfall. Im Moment des Geschehens ist es manchmal schwierig zu differenzieren. Ich möchte jedoch keinen spezifischen Moment nennen.

Haben Sie je ans Aufhören gedacht?
Nein.

Wenn man Ihr Portfolio betrachtet, entdeckt man hauptsächlich Bilder von gefährlichen, dramatischen und traurigen Situationen. Sie reisen von humanitären Krisen zu Kriegsszenen zu Krankenhäusern. Sind Sie nie wütend und traurig über diese Welt?
Das Portfolio auf meiner Website repräsentiert lediglich 30 Prozent meiner Arbeit. Ich mache auch viele andere Storys über ganz alltägliche Dinge.

Sind Sie Optimist oder Pessimist?
Ich bin ein ewiger Optimist.

Wie fühlen Sie sich, nachdem Sie diesen Award gewonnen haben?
Geehrt und traurig zugleich. Traurig aufgrund des Kontextes und der Geschichte hinter dem Bild. Geehrt, weil meine Arbeit weltweit für Aufmerksamkeit sorgt. Nun kennen viele Menschen das Schicksal der Familie Hijazi. Ich glaube, das ist eine sehr gute Sache.

Interview: Corinne Bauer und Lea Friberg.



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