Der Diskurs über dunkle und umstrittene Phasen der Geschichte sei nicht nur eine Angelegenheit der Historikerinnen und Historiker, sondern auch eine Aufgabe der Medien, die diesen Diskurs noch bewusster, planvoller und intensiver pflegen könnten. Ein Medium, das nach der Veröffentlichung einer Buchkritik bereits einen Leserbrief mit der Gegenposition abgedruckt hat, sei jedoch berufsethisch nicht verpflichtet, eine weitere umfangreiche Replik auf die Buchkritik als Leserbrief zu veröffentlichen. Zu diesen Schlüssen gelangt der Schweizer Presserat in einer am Freitag veröffentlichten Stellungnahme.
Im Oktober 1999 veröffentlichte der Tages-Anzeiger eine Besprechung des Buches von John Cornwell: "Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat", das englisch unter dem Titel "Hitler's Pope" erschienen war. Die Rezension, der Beweisführung des Buches folgend, schilderte einen Papst, der den Kommunismus bekämpfen, Einfluss über die Ostkirchen gewinnen und sich mit Nationalsozialismus und Faschismus arrangieren wollte und deshalb die Judenverfolgung öffentlich nicht anprangerte. Der Leser V. reagierte darauf mit einer ausführlichen Stellungnahme, in der er zeigte, dass sich der damalige Papst über die Judenverfolgung sehr wohl empörte, aber auf einen öffentlichen Protest verzichtete, weil er mit Racheakten der Nationalsozialisten gegen Katholiken und Juden rechnen musste. Da die Stellungnahme aus Platzgründen nicht abgedruckt wurde, wandte sich der Autor anfangs November 1999 an den Presserat und machte eine Verletzung des Fairnessgebots und der Wahrheitspflicht geltend. Der Tages-Anzeiger wies die Beschwerde vollumfänglich zurück und machte geltend, dass der Text des Beschwerdeführers für einen Leserbrief viel zu lang und zu umständlich formuliert gewesen sei. Der Tages-Anzeiger habe zudem zwei andere kritische Leserbriefe publiziert, in denen teilweise ähnlich argumentiert worden sei.