06.08.2020

Serie zum Coronavirus

«Es ist einfach nur grauenhaft»

Die Mutter von Jessica Mor-Camenzind stammt aus dem Libanon. Nach der gewaltigen Detonation im Hafen von Beirut will Mor mit einem eigenen Hilfswerk Unterstützung leisten. In Folge 95 unserer Serie sagt sie, welche Hilfsmittel nun am nötigsten sind.
Serie zum Coronavirus: «Es ist einfach nur grauenhaft»
Jessica Mor-Camenzind setzt sich für Menschen in Syrien und im Libanon ein. (Bild: zVg.)
von Matthias Ackeret

Frau Mor, Sie haben Verwandte und Bekannte in Beirut. Wie geht es ihnen?
Ja, sehr viele. Meine Mutter kommt aus dem Libanon. Ich habe viele Tanten, Onkel, Cousinen und Freunde in Beirut und im Rest des Landes. Meine Familie wie auch ich waren alle in einer Schockstarre, ohnmächtig, fassungslos und voller Sorge um Familienmitglieder und Freunde, die wir nicht mehr erreichen konnten und die zum Teil unmittelbar am Hafen, dort wo die Explosion stattfand, leben. Eine meiner Cousinen liegt mit schweren Verletzungen im Spital, ihre Freundin hat nicht überlebt. Sie waren in ihrer Wohnung, als es passierte. Als ich einen Teil meiner Familie telefonisch erreichen konnte, brachen die zusammen. Sie sagten: Wir haben doch schon alles verloren, warum hört das nicht auf? Was muss noch alles passieren?

Wie haben Sie vom Unglück erfahren?
Von meiner Partner-NGO, die mir innert wenigen Minuten nach der Explosion Videos geschickt hat. Meine Familie konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht erreichen. Es war das reinste Chaos, der blanke Horror.

Wie kommunizieren Sie mit Ihren Bekannten?
In der Zwischenzeit konnte ich viele erreichen. Hauptsächlich über WhatsApp und Facebook.

«Das Land ist komplett zusammengebrochen»

Sie haben das Hilfswerk Swiss4Syria gegründet. Welche Hilfsmassnahmen haben Sie jetzt geplant?
Swiss4Syria haben wir 2015 für die syrischen Flüchtlinge gegründet. Im Südlibanon haben wir vor vier Jahren eine Schule eröffnet, die mittlerweile über 170 Schülerinnen und Schüler betreut. Ende 2019 begann die Krise im Libanon: Feuer, Überschwemmungen, Proteste. Dann der totale wirtschaftliche Kollaps, Inflation, Covid-19 und hungernde Libanesen. Mit unserem neuen Vorstandsmitglied Karin Tamina Deilmann, haben wir innert kürzester Zeit Swiss4Lebanon gegründet. Einerseits unterstützen wir mittellose libanesische Studentinnen und Studenten, anderseits haben wir Food4Life auf die Beine gestellt. Seit Dezember 2019 verteilten wir bereits über 1000 Foodboxen für hungernde Libanesen. Es ist grauenvoll. Das Land ist komplett zusammengebrochen.

Und jetzt noch dieses Unglück …
Dass diese tragische Explosion dazugekommen ist, ist der Genickbruch für das Land. Die Menschen haben so oder so praktisch alles verloren, jetzt auch noch ihr Leben, ihre Familien, ihre Wohnungen. Es ist eine ganz, ganz schlimme Katastrophe.

Aber wie können Sie von der Schweiz aus helfen?
Wir haben uns ganz schnell für Soforthilfe entschieden. Wir organisieren Stoffe, um die Fenster abzudichten, weil ganz viele Scheiben kaputt gegangen sind. Daneben organisieren wir Klebstreifen, Schaufeln, Besen, Trinkwasser et cetera. Die Liste der Hilfsgüter wird ständig angepasst. Die wichtigste Hilfe sollte jetzt von der internationalen Staatengemeinschaft kommen. Das Volk ruft schon lange nach einem Neustart, was jedoch mit der momentanen Regierung nicht möglich ist. Der Druck auf die Regierung muss jetzt noch verstärkt werden. Nur so kann das Land wieder aufstehen.

Sind Sie viel im Libanon?
Ich reise mehrmals im Jahr in das Land meiner Mutter, um unsere Projekte auszubauen, um die Familie zu sehen und weil ich einfach das Land und die Menschen dort so schätze und liebe.

Sie haben vorhin Corona angesprochen. Wie fest leidet der Libanon darunter?
Beirut, ja das ganze Land, leidet auch stark unter der Pandemie.

«Mich braucht es hier»

Inwiefern beeinträchtigt Corona Ihre Hilfsmassnahmen?
Sehr. Leider ist es seit ein, zwei Wochen nicht mehr möglich, aus der Schweiz in den Libanon einzureisen, da unser Land wegen Corona auf der Blacklist steht. Das hätte man sich auch niemals vorstellen können, dass man aus der Schweiz kommend, nicht mehr einreisen darf.

Wie sehen die nächsten Tage aus? Versuchen Sie auf einem anderen Weg in den Libanon zu reisen?
Auch wenn ich könnte, würde ich es nicht tun. Mich braucht es hier. Die nächsten Tage sitze ich mit Karin Deilmann zusammen und telefoniere fast stündlich mit unseren Leuten vor Ort, damit wir die Soforthilfe korrekt und zielgerecht einsetzen können. Die Spendengelder werden vollumfänglich für die Soforthilfe eingesetzt. Jetzt heisst es, alle Kräfte für die Menschen im Libanon einzusetzen.



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.



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