Frau Wirth, was macht Corona eigentlich mit den Golden Agers?
Ich erlebe sie erstaunlich entspannt. Letzte Woche hat mich eine 79-Jährige spontan geküsst beim Abschied. Huch, das ist man nicht mehr gewohnt. Bei Corona ist mehr die Frage, was es mit uns «Kindern» macht. Wir haben gemerkt, «Shit, alles ist vergänglich», die Eltern und Grosseltern könnten plötzlich weg sein. Der Gedanke ist nicht lustig.
Im Lockdown hat man die Grosseltern isoliert. Wie hat sich die Situation auf Ihre Geschäfte ausgewirkt?
Im März und April war tote Hose. Ich hatte volle Auftragsbücher, durfte aber von einem auf den anderen Tag nicht mehr drehen. Im Mai sind dann alle zurückgekommen und neue Kundinnen und Kunden obendrauf. Corona hat meinem Geschäft wahrscheinlich sogar geholfen. Man hat gecheckt, dass man heute und nicht morgen die Eltern und Grosseltern filmen muss. Das spielt mir in die Hand. Ich möchte nicht, dass eine Familiengeschichte verloren geht, weil man es verpasst hat, seine Eltern oder Grosseltern danach zu fragen.
Wovon handeln also Ihre Filme?
Es sind biografische Kurzfilme. Es geht um Erinnerungen, wichtige Momente und Weichenstellungen im Leben. Ich bin als Videojournalistin den Eltern und Grosseltern ganz nah, ein oder zwei Tage auf Besuch. Ich filme sie bei alltäglichen, typischen Beschäftigungen wie beim Kochen oder Rasenmähen. Wir blättern durch Fotoalben, greifen – wenn vorhanden – auf Super-8-Filme zurück. Das alles ergibt rund 20-minütige, intime Dokumentarfilme, die übrigens privat sind und nur der Familie gehören. Sie zeigen, warum man so ist, wie man ist.
Warum fragen und filmen Kinder ihre Eltern nicht selbst?
Man hat eine natürliche Scham. Es fehlt die Distanz und man ist Teil des Systems. Es ist einfacher, wenn neutrale Drittpersonen Fragen stellen und vielleicht kann ich es auch besser nach 25 Jahren Journalismus und Erfahrung in Storytelling.
Merken Sie beim Filmen, dass Corona etwas mit unserem Wertesystem gemacht hat?
Auf die Frage, worauf es im Leben ankommt, haben 80-Jährige schon vor Corona nichts Materielles erwähnt. Funkelnde Augen haben Golden Agers hingegen, wenn sie von Skiferien und SKA-Mützen erzählen, von selbst gezimmerten Bienenhäusern und der Jugendliebe. Wertvoll sind Beziehungen, Beziehungen, Beziehungen. Das ist nichts Neues, aber Corona hat’s verstärkt, ist meine Beobachtung.
Sie verfilmen also Memoiren – wer hat Geld dafür, jetzt, wo keiner weiss, wo Corona uns hintreibt?
Frage zurück: Gibt man nicht gerne Geld aus, wenn es glücklich macht? Retrospekt-Filme kosten ab 8000 Franken. Das ist viel Geld, aber auch viel Arbeit, weil massgeschneidert und professionell erzählt. Es ist häufig die mittlere Generation, die mich beauftragt und zu den Älteren schickt. Diese fühlen sich wertgeschätzt und erzählen gerne. Es sind Geschenke auf einen runden Geburtstag oder zur goldenen Hochzeit. Und den ideellen Wert eines privaten, persönlichen Films hat noch niemand infrage gestellt.
Haben die alten Leute Angst vor den kommenden Monaten, oder wie gehen Sie damit um?
Angst spüre ich nicht – und Sorgen über die Zukunft sind nicht nur schlecht. Sie halten uns hoffentlich «e bitzeli demütig».
Was ist Ihre Lesson Learned in Bezug aufs Älterwerden? Was können wir von den Alten lernen?
Erkenntnis Nummer eins: Einsamkeit ist ein grosser «Schissdräck». Also gib dir Mühe, eine gute Freundin und ein guter Mensch zu sein. Payback Time kommt «fadegrad» im Altersheim! Das Alter macht man sich zum Teil selbst – vorausgesetzt man ist gesund und lebt in Europa. Und Erkenntnis Nummer zwei: Materielles wird überschätzt. Der teuerste Porsche macht nur dann glücklich, wenn ein guter Freund auf die Spritzfahrt mitkommt und man im Panoramarestaurant bei «Merängge und Nidle» ein gutes Gespräch führen kann. Deshalb lohnt es sich, einmal mehr mit Freunden abzumachen und die finanzielle Gier etwas zu drosseln.
Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Wochen?
Eine 82-jährige Frau hat im Interview erzählt, dass sie gerne noch einmal richtig in die Ferien ginge. Auf und davon mit dem E-Bike und in Begleitung von einem ihrer Kinder. Solche konkret geäusserten Wünsche fahren ein. Es war eine berührende Szene voller Sehnsucht im Film, und ich habe für mich gedacht: Let’s do it, man sollte nichts aufschieben.
Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com regelmässig eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.
KOMMENTARE
05.10.2020 18:32 Uhr