Frau Jammi*, mit dem Beratungsunternehmen Check My Ads möchten Sie die «Desinformationskrise» überwinden. Eine grosse Rolle spielt dabei laut Ihnen die «Desinformations-Ökonomie». Was meinen Sie damit?
Die meisten Leute denken bei diesem Begriff an Facebook, Twitter und weitere Plattformen, auf denen Desinformationen verstärkt verbreitet werden. Das ist aber nur ein Teil der Gleichung. Solche Informationen haben erst dann Erfolg, wenn beispielsweise ein Facebook-User auf den Link klickt, der zur Website eines Desinformationsunternehmens wie Breitbart.com führt. Dort kassieren sie ab, indem sie Werbeschaltungen laufen lassen. Mit diesem Geld machen sie nicht nur Profit, sondern können ihre Desinformationsoperationen ausbauen, indem sie die Ad-Tech-Lieferkette via Ad Exchange** automatisiert nutzen. Die Desinformation wird also fast ausschliesslich durch Werbeeinnahmen finanziert.
Bei Ihrer Keynote an der DEX22 am Mittwoch in Zürich haben Sie gesagt, dass die Branche bei Brand Safety die falsche Frage stelle. Inwiefern?
Die Branche definiert Brand Safety derzeit in dieser Form: «Wir wollen verhindern, dass unsere Anzeigen neben Desinformationsschlagzeilen oder Hate Speech erscheinen.» Dies hat die Branche veranlasst, nach Lösungen zu suchen, die mit dieser Definition übereinstimmen: Marken investieren also in Domain- und Keyword-Blocklisten. Wir glauben, dass dies das falsche Problem ist, das es zu lösen gilt. Denn bereits bei meinem früheren Engagement für die Kampagne «Sleeping Giants» ging es darum, zu verhindern, dass rechtsextreme Websites wie Breitbart.com Profit machen. Die Definition, die wir für Brand Safety verwenden, lautet folglich: «den Fluss von Werbedollars an solche Organisationen verhindern».
Die Kampagne von «Sleeping Giants» weist Marken seit Ende 2016 darauf hin, wenn ihre Werbeschaltungen auf Breitbart.com erscheinen. Fast sechs Jahre später passiert das dennoch weiterhin – zuletzt auch in der Schweiz. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es geschieht nach wie vor, weil die Ad-Tech-Industrie die Verantwortung für Brand Safety auf die Werbetreibenden übertragen hat – wie etwa die Führung der erwähnten Blocklisten. Das ist unfair.
Weshalb?
Diese Arbeit benötigt viele Ressourcen. Werbetreibende haben keine Spezialisten, die wissen, was Desinformation ist und was nicht. Das wäre die Aufgabe der Ad-Exchange-Eigentümer. Diese haben zwar Richtlinien eingeführt, die versichern sollen, dass Anzeigen nicht im Umfeld von Desinformation und Hassreden ausgespielt werden. Aber sie setzen diese Richtlinien nicht durch. Dies erschwert den Werbetreibenden die Arbeit sehr. So sind es schliesslich Personen oder «Sleeping Giants», die Marken auf Social Media mitteilen, dass ihre Werbung auf Seiten wie Breitbart.com erscheinen.
«Verantwortungsbewusste Medien erhalten proportional weniger Werbeeinnahmen als Desinformations-Websites durch Ad Exchange»
Ist die Herausforderung von Brand Safety in Zeiten von Coronavirus und des Ukraine-Kriegs grösser geworden?
Ja, das Problem hat sich in den letzten Jahren noch verschärft, weil es einfach viel mehr negative Nachrichten gibt. Die Branche hat keine wirklichen Anstrengungen unternommen, um die Definition von Brand Safety zu ändern. Das Ergebnis ist, dass wir uns immer noch an dieser Stelle befinden. Auf Keyword-Blocklisten zu setzen, kommt mir vor wie eine Technologie aus den 80er-Jahren. Die wirklichen Innovatoren im Bereich von Brand Safety sind Personen wie Steve Bannon, die erkannt haben, wie dieses System funktioniert und wie sie es zum Profit nutzen können.
Was ist denn schlecht daran, wenn auf Keyword-Blocklisten gesetzt wird?
Ein Beispiel: Nach dem Ausbruch der Coronapandemie haben die meisten Marken begonnen, Begriffe wie «Covid-19» oder «Coronavirus» zur Blockliste hinzuzufügen. Weil man mit Werbeschaltungen nicht neben negativen und kontroversen Inhalten erscheinen will. Wenn dies alle Unternehmen so handhaben, verschwinden Werbeschaltungen neben Covid-19-Newsbeiträgen komplett. Die Folge: Medienhäuser generieren im Umfeld solcher News keine Werbeeinnahmen mehr.
Was können Werbetreibende tun, um ihren Beitrag im Bereich Brand Safety*** zu leisten?
Lokale Nachrichtenmedien und verantwortungsbewusste Medien identifizieren und sie mit ihren Werbeeinnahmen unterstützen. Denn sie erhalten proportional weniger Einnahmen im Vergleich zu Desinformations-Websites durch Ad Exchange. Die Unterstützung solcher Medien ist weit mehr als ein karitativer Akt, setzen sich Userinnen und User doch mit News von Qualitätsmedien stärker und genauer auseinander als mit jenen von Websites, die Desinformation verbreiten.
Lassen Sie uns zum Schluss zur «Desinformationskrise» zurückkommen: Wie wollen Sie diese mit Check My Ads beenden?
Indem wir im Markt Transparenz über die Funktionsweisen schaffen. Das erreichen wir nur durch die Offenlegung der Verkäufer-Accounts in Ad-Exchange-Netzwerken. Bei 90 Prozent des via Google ausgespielten Werbeinventars wissen wir heute nicht, wer hinter diesen Accounts steckt. Das ist das grösste Problem im Bereich von Brand Safety, denn Marken können nicht geschützt werden, wenn wir nicht wissen, wohin das Geld fliesst. Wenn wir keine Möglichkeit haben, diesen Fluss zu überprüfen, werden wir nicht in der Lage sein, das Problem zu lösen.
*Nandini Jammi ist US-amerikanische Aktivistin, Marketingexpertin und Beraterin im Bereich Brand Safety. Im Juni 2020 hat sie zusammen mit Claire Atkin die Beratungsagentur Check My Ads gegründet. Im Oktober 2021 waren die beiden Frauen Mitbegründerinnen der gemeinnützigen Gruppe Check My Ads Institute. Einen Namen hatte sich Jammi Ende 2016 als Mitbegründerin von «Sleeping Giants» gemacht – einer anfänglich anonymen Kampagne, die Hunderte grosser Marken dazu brachte, keine Anzeigen mehr auf der Website Breitbart.com zu schalten.
**Eine Ad Exchange ist ein digitaler Marktplatz, der es Publishern und Werbetreibenden ermöglicht, Werbeflächen zu verkaufen und zu kaufen – oft durch Echtzeitauktionen. Beispiele von Ad-Exchange-Betreibern sind Google, Yahoo, App Nexus und OpenX.
***Der Verein Digital Ad Trust Switzerland setzt sich für Brand Safety ein. Zum Beispiel mit dem Brand Safety und Digital Ad Trust Report. Die drei Verbände IAB Switzerland Association, Leading Swiss Agencies (LSA) und der Schweizer Werbe-Auftraggeberverband (SWA) haben den Verein Digital Ad Trust Switzerland im Frühjahr 2021 gegründet.
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01.12.2022 12:46 Uhr