19.10.2021

Zusammenlegung Bund/BZ

«Der Gölä-Graben ist ein Mythos»

In Bern gab es bislang zwei getrennte Redaktionen: Berner Zeitung und Bund. Am Mittwoch führt Tamedia die ungleichen Teams zusammen. Ane Hebeisen vom Bund und Mirjam Comtesse von der BZ haben sich in einer Arbeitsgruppe mit der DNA der beiden Titel befasst.
Zusammenlegung Bund/BZ: «Der Gölä-Graben ist ein Mythos»
Acht Arbeitsgruppen haben sich mit der Fusion befasst, eine davon hiess «Storytelling und Sound». Mit dabei waren die Medienschaffenden Ane Hebeisen vom Bund und Mirjam Comtesse von der Berner Zeitung. (Bilder: zVg)
von Matthias Ackeret

Frau Comtesse, Herr Hebeisen, was wird sich am 20. Oktober für den Leser der beiden Zeitungen ändern?
Ane Hebeisen: Vordergründig gar nicht so viel. Während des Fusionsprozesses war stets spürbar, dass an der grundsätzlichen Ausrichtung und Gewichtung der beiden Titel nicht geschraubt werden soll. So wird sich an der Architektur der Blätter nichts ändern. Zwei Beispiele: Der Bund wird weiterhin täglich mindestens drei Kultur- und Gesellschaftsseiten aufweisen, während es bei der Berner Zeitung eine bis zwei sein werden. Dafür wird die BZ weiterhin mehr Sport im Angebot haben. Online wird sich der Inhalt mehr angleichen. Hier werden sich die Titel vor allem in der Gewichtung und Platzierung der Artikel unterscheiden.

Mirjam Comtesse: Die Leserinnen und Leser sollen weiterhin die Artikel lesen können, die für sie «ihre» Zeitung ausmachen. Wir führen zwar neue Kolumnen ein und haben alte eingestellt, aber inhaltlich werden wir weiterhin auf gute regionale Geschichten setzen. Bei unseren vielen Diskussionen haben wir gemerkt, dass die Vorstellungen davon bei den Journalistinnen und Journalisten von BZ und Bund gar nicht so weit auseinander liegen.

Warum dann die Übung, wenn alles beim Alten bleibt?
Hebeisen: Das tut es natürlich nicht. Der grosse Wandel findet hinter den Kulissen statt. Zwei Redaktionen, die bisher in Konkurrenz zueinander standen, spannen zusammen. Die Redaktion wird sich mehr Zeit und Sorgfalt für Recherchen gönnen können, was für die Leserinnen und Leser letztlich ein Gewinn sein dürfte. Was Bern jedoch abhandenkommen wird, ist die Vielfalt der journalistischen Betrachtung. Es wird über einen kulturellen Anlass oder ein politisches Thema keine – oder nur in ganz wenigen Ausnahmefällen – konträre Meinungen zweier Zeitungen mehr geben. Davon wird die Leserschaft der beiden Blätter zwar weniger tangiert, denn es gibt nur sehr wenige Doppelleser. Aber für den Medienplatz Bern ist das natürlich ein Verlust. Und ausserdem war der Zusammenschluss mit einem Stellenabbau verbunden.

Wodurch zeichnet sich die «neue» einheitliche DNA der beiden Zeitungen aus?
Comtesse: Es galt zunächst herauszufinden, wo wir uns tatsächlich – nicht nur gefühlt – voneinander unterscheiden. Wir verglichen unzählige Artikel, die wir zu gewissen Themen veröffentlicht hatten, analysierten die Herangehensweisen, den Ton, die Perspektive oder die politische Färbung. Und ja, wir haben durchaus Unterschiede gefunden. In einem zweiten Schritt definierten wir, welche Art des Journalismus uns eigentlich vorschwebt. Und hier wurde es interessant. Denn darin unterscheiden sich unsere beiden Redaktionen viel weniger als angenommen. Eine grosse Gefahr besteht allerdings bei solchen Fusionierungsprojekten darin, dass eine Zeitung entsteht, die es allen recht machen will. Aber das wäre nicht im Sinn der neuen Redaktion.

Hebeisen: Genau. Es soll keine Zeitung entstehen, die dem Kantonsfrieden zuliebe damit aufhört, unangenehme Fragen zu stellen. Sie darf anecken und soll Diskussionen auslösen. Das werden wir unserer Leserschaft weiterhin zumuten, davon ausgehend, dass unsere Leserinnen und Leser von einer Zeitung erwarten, dass sie nicht bloss ihre Lebenswirklichkeit spiegelt, sondern bestenfalls auch den Horizont erweitert. Wenn wir zu einem Meinungsneutrum verkommen, dann machen wir uns obsolet. Uns schwebt ein einordnender Journalismus vor, der Vertiefung und kritische Analyse bietet und die sprachliche Sorgfalt hochhält. Ein Journalismus, der die Nischen der Kultur und der Gesellschaft nicht ausblendet und auch mal unterhaltend sein darf.

«Wir wollen die intellektuelle Tiefe des Bund mit der Formenvielfalt der BZ vereinen»

Hat es in der neuen Redaktion mehr Bund oder BZ?
Comtesse: Weder noch. Rein numerisch betrachtet, zählt die BZ-Redaktion heute zwar mehr Köpfe, aber da wir jeden Tag darüber diskutieren wollen, welche Geschichte wir wie erzählen, wird das kaum einen Einfluss haben. Das erklärte Ziel ist es, die Stärken beider Redaktionen mitzunehmen. Das heisst, wir wollen die intellektuelle Tiefe des Bund mit der Formenvielfalt der BZ vereinen.

Acht Arbeitsgruppen haben seit dem Sommer über die Ausgestaltung der beiden Titel diskutiert. Wie verlief diese Zusammenarbeit?
Comtesse: Ich war positiv überrascht von den Gesprächen in unserer Arbeitsgruppe. Wir haben gleich am Anfang beschlossen, unsere Vorurteile offenzulegen: Die BZ-Leute fanden den Bund tendenziell zu intellektuell abgehoben, der Bund die BZ eher zu nett und zu beliebig. Es war bereichernd, sich gemeinsam Gedanken darüber zu machen, was uns künftig wichtig ist und wo wir einander unter welchen Bedingungen entgegenkommen wollen.

Wo gab es Differenzen?
Comtesse: Am intensivsten diskutiert haben wir über die Kulturberichterstattung. Die Bund-Leser wünschen sich eine klare Beurteilung, was ein neues Album oder ein neues Buch taugt. Die BZ-Leserinnen sind vielfältige Formen – Autoreninterviews, Musikerinnenporträts, Listicles zu einem neuen Theaterstück – gewohnt. Künftig wollen wir bei möglichst jedem Artikel beides bieten. Aber die Diskussionen werden bei den täglichen Sitzungen weitergehen.

Der Bund gilt vor allem als urbane Stadtzeitung, die Berner Zeitung als diejenige der eher konservativen Landschaft. Kommen diese Gegensätze in den Blättern weiterhin vor?
Hebeisen: Es wird die Aufgabe der neuen Redaktion sein, den ganzen Kanton Bern abzubilden. Der Bund hat sich bisher als eher urbane Zeitung verstanden und hatte schlicht nicht die personellen Ressourcen, die Ränder des Kantons in regelmässiger Kadenz abzudecken. Doch wir sind überzeugt, dass die Neugier der Landbevölkerung auf urbane Themen ebenso gross ist wie jene der Stadtbevölkerung auf Geschichten aus den ländlichen Gebieten. Wir werden versuchen, diese exemplarisch zu erzählen. Das bedeutet: Wir wollen ein Phänomen in einem ländlichen Gebiet, wenn möglich, in einen Kontext zu anderen Gemeinden stellen. Gibt es das anderswo auch? Wie ist man dort damit umgegangen? Im Kulturteil werden diese Gegensätze schwieriger aufzulösen sein.

Chefredaktor Simon Bärtschi sprach einmal pointiert von einem «Gölä-Graben», was bedeutet: andere Betrachtungsweise des populären Sängers. Gibt es künftig auch noch andere Differenzen?
Hebeisen: Der Gölä-Graben – so schön es auch klingt – ist ein Mythos. Es bestand der Eindruck, dass der Bund den Sänger systematisch und einseitig als ländliches Phänomen ohne kulturellen Wert abgetan hat. Wir haben dann die Berichterstattungen der beiden Zeitungen verglichen und festgestellt, dass beide Blätter ähnlich kritisch mit den musikalischen und inhaltlichen Botschaften des Sängers umgegangen sind. Die Bund-Leserschaft ist sehr kulturaffin und sie schätzt die kritische Auseinandersetzung mit der Kultur. Sie erwartet, dass wir Farbe bekennen, einordnen und diese Einordnung fundiert erklären. Dies wird der Anspruch unserer Kulturredaktion sein. Dass man sich in Wengen eher weniger für die Hoch- und die Subkultur Berns interessiert, das können wir an den Leserzahlen gut ablesen. Deswegen darauf zu verzichten, wäre indes unvernünftig.

«Klischees von der provinziellen Landbevölkerung kommen bei BZ-Lesern schlecht an»

Sie haben auch ein gemeinsames Redaktionshandbuch verfasst. Was beinhaltet dieses?
Comtesse: Jede der acht Arbeitsgruppen hat einen Teil zum digitalen Fusionshandbuch beigesteuert. Der Leiter unserer Arbeitsgruppe, Stefan von Bergen, hat unter anderem einige Dos und Don'ts notiert: Klischees von der provinziellen Landbevölkerung kommen bei BZ-Lesern schlecht an. Im Gegenzug verlangen Bund-Leserinnen eine Einordnung in einen grösseren Zusammenhang. Wir wollen auf diese Sensibilitäten Rücksicht nehmen. Eine Idee, damit dies gelingt, ist es, dass künftig ehemalige Bund-Redaktorinnen die Artikel von früheren BZ-Redaktoren gegenlesen und umgekehrt.

Kann das Redaktionshandbuch auch der aktuellen Situation angepasst werden?
Comtesse: Auf jeden Fall. Unsere Arbeitsgruppe will sich auch weiterhin in unregelmässigen Abständen treffen, um zu überprüfen, ob wir unseren Ansprüchen gerecht werden. Dasselbe gilt, wo sinnvoll, für andere Arbeitsgruppen.

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Ein zentraler Punkt war «Storytelling und Sound», auf den Sie besonderen Wert legen. Wie äussert sich dies konkret?
Hebeisen: Es sind oft kleine sprachliche Nuancen, die einen Artikel als «arrogant», «anmassend» oder «unfundiert» erscheinen lassen. Das beginnt bereits mit der Perspektive. Berichtet man von einem ländlichen Gebiet aus der urbanen Besucher-Warte heraus, dann kann es passieren, dass schnell die Gotthelf-Klischees mit den urchigen Bauernhäusern und den Geranien bedient werden. Das langweilt die Betroffenen verständlicherweise, und es entlarvt uns als Eindringlinge. Es wird immer ein Balanceakt bleiben, ob wir über eine Region aus urbaner Perspektive berichten oder für eine Region und deren Informationsbedürfnis. Das Wort «Provinz» landet künftig auf der schwarzen Liste. Und wenn wir Klischees aufgreifen, lassen wir möglichst Einheimische etwas entgegnen. Das Gute an der neuen Konstellation ist, dass sie uns aus unseren Routinen reisst. Wir werden viel diskutieren, wie wir eine Geschichte erzählen wollen, welche Form wir wählen. Und ob es Aspekte in einer Geschichte gibt, die womöglich die Sensibilitäten unserer jeweiligen Klientel tangieren könnten.

Gab es schon eine Geschichte, die in den beiden Zeitungen einen völlig anderen Sound hatte?
Hebeisen: Natürlich gab es das. Täglich. Das war ja auch der Grund, warum es in Bern so lange zwei verschiedene Titel gab. Nehmen wir das Gurtenfestival. Hier hat sich der Bund jedes Jahr erlaubt, ob der musikalischen Darbietungen in ein leidenschaftliches Buhen oder in ein gleich geartetes Jubeln auszubrechen. Die Berner Zeitung hat eher auf das genauso wichtige Drumherum des Festivals fokussiert. Beides ist gangbar, beides soll künftig möglich sein. Auch politisch waren Unterschiede festzustellen: So verfolgte der Bund – nach dem Motto: Den Mächtigen auf die Finger schauen – die rot-grüne Stadtpolitik meist kritischer als die BZ, welche eher situativ Kritik übte und auch lobend in Erscheinung tritt. Wo genau die neue Redaktion zu liegen kommt, das wird sich weisen. Gewiss ist: Wir werden gegenseitig voneinander lernen und uns auch gegenseitig auf die Finger hauen müssen. Das wird nicht immer einfach sein. Doch nach anfänglichem Fremdeln glaube ich festzustellen, dass die Lust auf diese Auseinandersetzung am Wachsen ist.



Die Ankündigung, dass die Redaktionen von Berner Zeitung (BZ) und Bund näher zusammenrücken, ist gut ein Jahr alt (persoenlich.com berichtete). Die Arbeiten für die Fusion begannen Anfang 2021, der Start der neuen Redaktion erfolgte etappenweise in diesen Tagen, die Vollfusion am 20. Oktober. Als Reaktion auf diese angekündigte Zusammenlegung hat sich das neue Berner Medienprojekt «Hauptstadt» formiert, dessen Crowdfunding am 19. Oktober gestartet ist (persoenlich.com berichtete).



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Kommentare

  • Sebastian Renold, 19.10.2021 13:28 Uhr
    Penzinger hat recht: "dem (zahlenden) Publikum haben sie leider stets wenig oder nichts gebracht." Dem Redaktionspersonal selber am aller wenigsten - ausser neuen Sparübungen bis hin: nachzulesen oben bei Brunner!
  • Victor Brunner, 19.10.2021 12:04 Uhr
    Ane Hebeisen und Mirjam Comtesse sind naiv, sie haben das System TAmedia, kleine Schritte, nicht verstanden. Die heutige Zusammenlegung ist der erste Teil der Operation "Eindampfen". Nächste Massnahmen werden nach der Abstimmung über das Medienförderungsgesetz folgen, wo sich TAmedia, einen schönen Zustupf von der Allgemeinheit erhofft. Die JournalistenInnen der beiden Zeitungen müssen sich warm anziehen, Kündigiungen werden folgen! Die LeserInnen werden sich mit einem Einheitsbrei abfinden müssen wie es in der Region Zürich der Fall ist.
  • Rudolf Penzinger, 19.10.2021 10:18 Uhr
    "Acht Arbeitsgruppen haben sich mit der Fusion befasst." - Solche "Parallelaktionen" kennt man aus dem Zürcher Mutterhaus zur Genüge. Dem (zahlenden) Leser haben sie leider stets wenig oder nichts gebracht.
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