07.07.2022

Higgs

«Die richtige Idee zum falschen Moment»

Am Freitag erscheinen letztmals Beiträge auf Higgs.ch. Gründer Beat Glogger äussert sich zu den Gründen der Einstellung, zur Medienförderung, zu neuen Medien-Start-ups wie Bajour, Hauptstadt, Tsüri.ch – und er spricht über «miese Journalistenlöhne».
Higgs: «Die richtige Idee zum falschen Moment»
«Wir haben uns gesagt: Das Orchester spielt auf der Titanic, bis es nasse Füsse hat», sagt Higgs-Gründer und Wissenschaftsjournalist Beat Glogger. (Bild: René Ruis)
von Tim Frei

Herr Glogger*, am Freitag erscheinen auf Higgs.ch zum letzten Mal neue Beiträge. Was löst das bei Ihnen aus?
Mixed Emotions. Einerseits: Higgs ist ein super Produkt – deshalb kommt Wehmut auf. Andererseits muss ich nicht mehr dem Geld hinterherrennen, weshalb ich auch Erleichterung spüre. Und ich muss nicht mehr ständig dranbleiben, was die «Coronaschwurbler» von sich geben. Aber es schmerzt, ein solches Projekt aufzugeben. Wir werden uns mit einem positiven Bericht verabschieden.

Worauf darf sich die Leserschaft freuen?
Wir wollen «depressive Zeitgefühle» vertreiben. Die Welt wird nicht stets schlechter, sondern immer besser: Der Alphabetisierungsgrad und die Bildung nehmen zu, die Kindersterblichkeit und die Frauenunterdrückung gehen zurück. Die Indizes zeigen in eine erfreuliche Richtung – nicht nur in den Industrieländern. Auch die Armen in Entwicklungsländern sind weniger arm.

Welche Entwicklungen haben zur Einstellung geführt?
Der Niedergang setzt sich aus vier Elementen zusammen. Erstens: Als im Oktober 2021 ein Grossteil der Bevölkerung geimpft war und die Impfdebatte beendet war, hat das Interesse der Leserschaft abgenommen. Zweitens: In diesem Moment haben wir unsere bedingte Paywall eingeführt, nur unsere grossen Stücke waren dahinter, unsere Partnerformate beispielsweise nicht. Die Paywall kam aber ein halbes Jahr zu spät, weil wir Probleme bei der Entwicklung hatten. Es ist wie beim Surfen: Man muss die aufsteigende Welle erwischen und nicht jene, die sich senkt – denn diese Entwicklung wird durch eine Paywall noch verstärkt.

Weshalb haben Sie ein Bezahlmodell eingeführt?
Wegen des Mediengesetzes, nach dem nur Bezahlmedien gefördert worden wären – bei Onlinemedien mit 60 Prozent des Community-Ertrags. Wir sind präventiv vorgegangen, weil wir 2022 bereits möglichst viel Community-Ertrag erzielen mussten – damit wir das 2023 in Rechnung stellen könnten, um den Förderbetrag zu erhalten. Ich habe immer vom «Valley of Death» gesprochen, das wir durchschreiten müssen, bis 2023 die Medienförderung kommt. Und dann wurde das Mediengesetz abgelehnt – das dritte Element des Niedergangs von Higgs. Das Ende des «Valley of Death» war weggebrochen und damit fehlte die Langzeitperspektive.

Und das vierte Element?
Der Ukraine-Krieg. Im Februar sind die Abos eingebrochen – die Neuabschlüsse gingen fast auf null herunter. Die Menschen hatten andere Sorgen und das Geld der Glückskette gespendet oder gehortet, weil grosse Unsicherheit herrschte. Unsere Inhalte zum Ukraine-Krieg wurden überhaupt nicht nachgefragt, obwohl ich finde, dass wir gute Beiträge geliefert haben.

«Ich kritisiere die Medienwissenschaft nicht, aber unser Vertrauen in sie hat sich für uns gerächt»

Wie erklären Sie sich die Fehlprognose bei den Abos?
Wir haben uns auf die Medienwissenschaft des Fög verlassen, die belegte, dass während der Pandemie die Zahlungsbereitschaft für Medieninhalte von 13 auf 17 Prozent angestiegen ist. Um es einfacher zu berechnen, sind wir von 10 Prozent ausgegangen: Bei unseren 100'000 Usern hätte dies einem Potenzial von 10'000 Abonnentinnen entsprochen. Das galt aber nicht für einen Spartenkanal – wir hatten nur ein Prozent Conversion Rate von Lesenden zu Abonnentinnen und Abonnenten. Ich kritisiere die Medienwissenschaft nicht, aber unser Vertrauen in sie hat sich für uns gerächt.

Üben Sie auch Selbstkritik?
Klar. Aber man muss schon sehen, dass es sich um die Gratismentalität handelt. Ein Studentenabo hätte bei uns einem Espresso pro Monat entsprochen – ein normales zwei. Ich habe festgestellt, dass die Leute Abo-müde sind – respektive bereits viele andere Abos haben. Selbstkritik? Wir waren naiv zu meinen, dass man sich mit Qualität durchsetzt. Ich zitiere gerne einen berühmten Wirtschaftsprofessor: «Man muss nicht das beste Produkt auf den Markt bringen, sondern eines, das gut genug ist.»

Was braucht es neben der Qualität?
Marketing, Branding, Image – so wie es die Republik eindrücklich vorgemacht hat. Die Republik hatte allerdings auch zwei Millionen Startkapital. Marketing ist am Anfang wichtiger als Inhalte. Uns fehlte das Geld, um kompetente Personen dafür anzustellen.

Die Einstellung von Higgs haben Sie Ende April angekündigt. Wie schwer war es, Ihr Team zum Weitermachen bis zum Ende zu motivieren?
Das war gar nicht schwer – es war super, wie alle am gleichen Strick gezogen haben. Wir haben uns gesagt: Das Orchester spielt auf der Titanic, bis es nasse Füsse hat. Zudem haben wir beschlossen, dass sich jeder und jede von Higgs so vom Publikum verabschieden wird, wie er oder sie in Erinnerung bleiben möchte. 

Wie werden Sie sich vom Higgs-Publikum verabschieden?
Es wird einen letzten «Faktist»-Videobeitrag geben, der die viereinhalbjährige Reise von Higgs zusammenfassen wird. Vor allem aber wird es ein Dank sein an die Institutionen, die uns unterstützt haben – die Stiftungen, den Nationalfonds, aber auch an die Leserschaft. Es gab bestürzte Mails nach der angekündigten Einstellung und rührende Angebote, uns zu retten. Higgs war die richtige Idee im falschen Moment. 

«Offenbar ist Higgs verzichtbar, das ist die bittere Erkenntnis»

Kam Higgs zu früh?
Davon bin ich überzeugt. Es begleitet mich durchs Berufsleben, dass ich mit meinen Ideen zu früh kam. In den USA gibt es mehrere Medienprojekte, die von Stiftungen getragen werden. Das wird auch in der Schweiz kommen. Wir waren ein Pionier mit Higgs. Der luxemburgische Nationalfonds hat bei uns Leistungen eingekauft, der schwedische Nationalfonds sich von uns beraten lassen beim Aufbau eines vergleichbaren Portals.

Nach Higgs hat mit Kolt ein weiteres Medium den Betrieb eingestellt (persoenlich.com berichtete). Können Medien-Start-ups überhaupt längerfristig überleben?
Ich habe mich mit dem Kolt-Herausgeber Yves Studer darüber unterhalten, weshalb es ein Medium braucht. Bei Kolt war es lange Zeit der Veranstaltungskalender. Tsüri.ch hat sich stark in den Bereichen Community und Lifestyle sowie als Veranstalter entwickelt. Als neues Medium muss man seine Nische finden.

War Higgs zu breit?
Die einen fragen mich, ob wir zu breit waren, die anderen, ob wir zu schmal waren. Es spielt keine Rolle, ob schmal oder breit, ein Medium muss unverzichtbar sein. Offenbar ist Higgs verzichtbar, das ist die bittere Erkenntnis. Interessant ist, was mit Bajour und Hauptstadt passiert.

Wie meinen Sie das?
Bajour hat von der Stiftung Medienvielfalt eine Million Betriebskapital für drei Jahre garantiert. Die Hauptstadt hat eine halbe Million** der gleichen Stiftung erhalten, bevor sie einen Text publiziert hat. Das Problem an Stiftungen ist, dass sie ein Klumpenrisiko sind: Wir haben 50'000 Franken erhalten von der Stiftung für Medienvielfalt für 2021, das Gesuch für 2022 wurde dann aber abgelehnt.

Wie sieht ein Modell für die Finanzierung von neuen Medien aus?
Ein tragfähiges Modell ist ein Mix aus Community, Stiftungen und Sponsoren. Es ist bitter, dass man in der Schweiz Geld findet, um den Nebelspalter oder die Weltwoche zu kaufen und sie dann auf Rechtsaussen zu trimmen. Dass es sehr viel schwieriger ist, den linken Millionär zu motivieren als den rechten – das finde ich interessant. Weshalb das so ist, ist für mich eine politisch-gesellschaftlich-philosophische Frage, auf die ich keine Antwort habe. Und Higgs war ja weder links noch rechts verpflichtet, sondern dem evidenzbasierten Journalismus.

«Niemand sagt dem Schweizer Publikum, wie mies der Journalismus bezahlt ist»

In einem Medienwoche-Interview haben Sie gesagt: «Die Schweizer Medienbranche ist krank.» Was führt Sie zu diesem harten Vorwurf?
Reden wir von den Löhnen: Meine bestverdienende Redaktorin hat weniger verdient als eine Primarlehrerin bei ihrer ersten Stelle im Berufsjahr eins nach der Pädagogischen Hochschule im Kanton Zürich. Meine Redaktorin hat eine Dissertation, einen CAS und mehrere Jahre Erfahrung in Kommunikation. Natürlich haben die Lehrerinnen und Lehrer eine Verantwortung, aber niemand sagt dem Schweizer Publikum, wie mies der Journalismus bezahlt ist. Der Bevölkerung ist das nicht bewusst, weil die Medien nicht darüber berichten. Wenn ich als Unternehmer mit 37 Jahren Berufserfahrung mit einem Ehrendoktortitel nicht so viel verdiene wie ein Gymilehrer nach zehn Jahren, fühle ich mich etwas wenig wertgeschätzt.

Konkreter bitte.
Dass die Journalistinnen und Journalisten, welche die Bevölkerung faktentreu informieren, auf der Payroll am unteren Ende sind, ist unglaublich. Dann muss man sich nicht wundern, weshalb die Besten den Journalismus verlassen. Fast alle kompetenten Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten gehen, auch die Generation, die 15 Jahre jünger ist als ich. Grund: Es ist zu streng und zu schlecht bezahlt. Die meisten gehen in den Lehrerberuf oder in die Kommunikation – und dort langweilen sie sich, wie ich von vielen gehört habe.

Was ist der Ausweg für den Journalismus?
Das Mediengesetz hätte Abhilfe schaffen können. Der gegnerischen Seite ist es leider gelungen, zu sagen: Wenn der Staat die Medien unterstützt, werden sie abhängig. Das ist aber nicht belegbar. In Skandinavien gibt es eine starke Medienförderung. Studien zeigen: Je mehr ein Land die Medienlandschaft fördert, desto diverser ist die Medien- und die politische Landschaft – und desto stärker ist die politische Partizipation. Medien erfüllen einen Grundversorgungsauftrag, folglich muss man das gleichbehandeln wie den Naturschutz oder die Landwirtschaft.

«Die Förderung der Frühzustellung von Zeitungen ist für mich nicht sinnvoll»

Was wäre aus Ihrer Sicht denn eine sinnvolle Medienförderung?
Nicht sinnvoll ist für mich die Förderung der Frühzustellung von Zeitungen, die kann man auf einem iPad lesen. Weshalb muss man eine NZZ ins Schanfigg transportieren? Das ist doch völlig absurd.

Die ältere Generation bevorzugt allerdings noch Zeitungen …
… ich bin 62-jährig. Meine Mutter ist 88, sie liest Medien auch auf dem iPad. Für sie ist das eine gute Sache, weil sie sich sagt: «Dann kann ich im Pyjama den Tagi lesen und muss dafür nicht zum Briefkasten.» Wenn meine Mutter, die definitiv kein Digital Native ist, das kann, ist doch jeder unter 90 Jahren dazu fähig.

Wir waren bei der «sinnvollen» Medienförderung …
… sie müsste an Bedingungen geknüpft sein. Beispielsweise an einen Cap bei den Dividenden. Es kann nicht sein, dass die Medienkonzerne die Redaktionen immer mehr ausbeuten und gleichzeitig Dividenden ausschütten. Dass man solche Medien noch dermassen fördert, verstehe ich nicht.

Wie sieht Ihre Zukunft aus?
Ich bin nun frei, meine vielen Ideen voranzutreiben. Im September erscheint ein Buch von mir – ein lustiges, das nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Es nennt sich «Die Winterthurer Strassennamen-Saga», bei der nur Substantive vorkommen, die es in Winterthur als Strassennamen gibt. Zum Beispiel Albert Einstein.

Aber den Journalismus dürften Sie kaum verlassen?
Ich habe Angebote für verschiedene Formate. Ich prüfe derzeit, inwiefern mein Know-how bei anderen Medien genutzt werden könnte.



* Beat Glogger, ausgebildeter Mikrobiologe und Journalist, machte sich 1999 nach 14 Jahren als Redaktor, Moderator und Redaktionsleiter beim Wissenschaftsmagazin «MTW» des Schweizer Fernsehens selbstständig. Er gründete Scitec-Media, eine Agentur für Wissenschaftskommunikation – mit Aufträgen von Hochschulen, wissenschaftlichen Institutionen und Firmen. Zudem publizierte der 62-Jährige mehrere Sachbücher und drei Romane, unterrichtet seit Jahren Wissenschaftsjournalismus und gibt Medientrainings. Er wurde mehrfach ausgezeichnet für gute Wissenschaftskommunikation – unter anderem wurde ihm von der Universität Zürich der Ehrendoktortitel verliehen. Im Januar 2018 ging das von Glogger gegründete Online-Wissenschaftsmagazin Higgs.ch an den Start.

** Die Hauptstadt dementiert die Aussage von Beat Glogger, wonach das Onlinemagazin von der Stiftung für Medienvielfalt 500'000 Franken vor dem Publikationsstart erhalten haben soll. «Wir haben 100'000 Franken erhalten. Für die Jahre 2023 und 2024 werden wir auch noch einmal je 100'000 Franken erhalten – wenn wir vordefinierte Ziele erfüllen», so Marina Bolzli, Co-Redaktionsleiterin Hauptstadt.



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Kommentare

  • Lukas Vogelsang, 07.07.2022 12:13 Uhr
    ... na ja. Ich mache meinen Job seit 20 Jahren. So viel Gejammere habe ich in dieser Zeit also nicht hinbekommen - und Glogger ist schon nach 4 Jahren am Ende. Irgendwie ... tsüri.ch hat ein Budget welches mit den Abobeiträgen nicht erreicht wird. Die machen versteckte PR-Kampagnen. Und die Hauptstadt hat kein Wachstum im Abobereich, bringt sehr viele Geschichten, welche die Tamedia schon gebracht hat - einfach mit mehr Adjektiven, und Bajour hat keine Zukunft, weil niemand in so kurzer Zeit die Einnahmen von einer Million selbst generieren kann heute. Wir vom ensuite produzieren seit 20 Jahren jetzt. Statt zu schreien, wie toll das ist, statt mit uns zusammen zu diskutieren, was man wie lösen könnte ... Bejammert werden die schlechten Businesspläne. Rette sich wer kann! ...
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