Frau Kessler*, zurzeit gehen auch in Schweizer Städten Corona-Kritiker auf die Strassen. Wie kommt es dazu, dass Menschen an Verschwörungstheorien oder an falsche Informationen glauben?
Im Prinzip sind wir alle, zumindest in Gebieten, in denen wir uns nicht auskennen, anfällig für Fake News. Weil wir oft nicht genug Zeit, kognitive Ressourcen oder Motivation haben, um komplexe Themen wie wissenschaftliche und medizinische Erkenntnisse zu verstehen, kommt es sehr häufig zu Missverständnissen und Halbwissen. Fake News haben des Weiteren überzeugende Eigenschaften, die es sehr attraktiv machen, diese zu lesen und an diese zu glauben – sie sind meist leicht verständlich, einfach und plausibel und dazu sind sie oftmals emotional, sensationell, überraschend, klar in ihrer Bewertung und visuell hübsch aufbereitet.
Sie forschen seit mehreren Jahren zu wissenschaftlichen Fake News im Gesundheitsbereich. «Fingerknacken schädigt die Gelenke» oder «Schnapps regt die Verdauung an»: Warum sind gerade Gesundheitsthemen so anfällig dafür?
Dass Menschen insbesondere bei Gesundheitsfragen an Fake News glauben, erklärt sich unter anderem mit dem menschlichen Wunsch gesund zu sein, zu bleiben oder werden zu wollen und der Angst vor Krankheit und Tod. Schon evolutionär ist der Mensch darauf angelegt, mit der eigenen Gesundheit besser nicht zu experimentieren, sondern sich auf das zu verlassen, was andere denken, empfehlen und tun. Wirken die Informationen, die man über das Coronavirus liest auch noch plausibel und passen ins eigene Weltbild, werden sie direkt mental eingespeichert.
«Im schlimmsten Fall verbreitet sich das Virus noch schneller und bringt Tote, wo es ohne die Fake News gar keine geben müsste»
Im Gegensatz zu Fingerknacken oder Verdauungsschnapps kann Falschinformation zum Coronavirus wirklich gefährlich werden. Wo sehen Sie Risiken?
Dass sich die Verbreitung von Gerüchten und Fake News im Gesundheitsbereich verheerend auswirken kann, zeigt sich zum Beispiel an etlichen Masernausbrüchen – mit Toten in Ländern, wo dies noch vor wenigen Jahren so nicht möglich gewesen wäre. Aber unter anderem Verschwörungstheorien und Fake News sorgten dafür, dass die Impfquote zurückging und sich die vermeintlich ausgerottete Krankheit wieder verbreiten kann. Beim Coronavirus kann Fehlinformationen genauso gefährlich werden und sich in den Köpfen der Menschen festsetzen, wie die Impfmythen. Im schlimmsten Fall verbreitet sich das Coronavirus dann noch schneller und bringt Tote, wo es ohne die Fake News gar keine geben müsste, weil Menschen an falsche Gegenmittel oder Ansteckungswege glauben. Während des Ebola-Ausbruchs in Westafrika nannten Gesundheitsbeamte weit verbreitete Fake News als eine der Hauptursachen für die Verbreitung der Krankheit.
Sie forschen auch im Kampf gegen die Verbreitung von Fake News und erarbeiten sogenannte Debunkingstrategien. Ganz konkret: Wie geht man vor, wenn ein Arbeitskollege oder die WG-Mitbewohnerin sagt, dass Bill Gates Covid-19 erfunden habe, um von einem selbst entwickelten Impfstoff zu profitieren?
Es hilft am Ende nur kontinuierliche und gut aufbereitete Kommunikation. Sei es beispielsweise Gründe aufzuzeigen, warum eine Fake News existiert, klare, wissenschaftlich gesicherte und einschlägige Gegenargumente zu liefern und die rhetorischen Strategien der Verbreiter offenzulegen. Ob sich der Arbeitskollege oder die Mitbewohnerin dann wirklich umstimmen lässt, hängt ganz davon ab, wie verfestigt seine/ihre Meinung in Bezug auf die Fake News ist, wie gut die Fake News in sein/ihr bisheriges Weltbild hineinpasst und wie gesichert und plausibel die Gegenargumente sind. In Bezug auf die konkrete oben genannte Fehlinformation ist es leicht, Argumentationshilfen im Internet zu finden. Die verschiedensten Fact-Checking-Plattformen wie bspw. Correctiv.org, Mimikama.at, aber auch journalistische Medien wie die NZZ oder die Tagesschau, auch Wikipedia und viele andere Internetseiten haben sich bereits mit dieser Fake News auseinandergesetzt, liefern Belege, die diese News eindeutig als Fake News klassifizieren, und widerlegen diese.
«Viele Menschen bevorzugen ein falsches Bild gegenüber einem unsicheren»
Meine Erfahrung zeigt, dass es trotz wissenschaftlicher Fakten schwierig ist, das gegenüber zu überzeugen. Warum sind Mythen oder Verschwörungstheorien so hartnäckig?
Falschnachrichten bilden ein mentales Bild im Kopf der Menschen, dem dieses eine einfache Erklärung für Sachverhalte liefert. Je länger ein mentales Modell gehalten wird, desto mehr wird es ins Gedächtnis integriert und desto schwerer ist es veränderbar. Wird die Fake News widerlegt, entsteht eine Lücke im mentalen Bild. Viele Menschen bevorzugen dann ein falsches Bild gegenüber einem unvollständigen, unsicheren Bild. Wenn es keine bessere Erklärung gibt, entscheiden sie sich für falsche Erklärung.
Welche Punkte sind massgebend für ein erfolgreiches Debunking?
Das Wichtigste überhaupt ist eine umfangreiche Aufklärung der Bevölkerung über Fake News. Sie darin zu fördern kritisch zu sein, und sich aus vielfältigen, vertrauenswürdigen, das heisst qualitativen journalistischen Quellen zu informieren und folgende Fragen für sich zu klären: Wer verbreitet eine Information und warum? Berichten andere qualitative Quellen auch über die Information? Wie wird die Information belegt? Wurde etwas manipuliert? Eine Quellensensibilität sollte bei den Leserinnen und Lesern gefördert werden und es sollten Quellen mit hoher Glaubwürdigkeit bei der Widerlegung genutzt werden. Es braucht dafür eine Kommunikation, die sich auf wissenschaftliche Belege stützt, adäquat auf diese verweist und auch Daten leicht zugänglich zur Verfügung stellt.
Welche Rolle können Medien in dieser Aufklärung übernehmen?
Die Forschung ist seit Beginn der weltweiten Fake-News-Debatte verstärkt dabei, Mittel und Wege zu untersuchen, wie eine Korrektur durch Medien am besten funktionieren kann. Es ist allerdings eine Fehleinschätzung, dass einfach nur mehr Informationen für die Öffentlichkeit ausreichen würden, um Fake News zu widerlegen. Debunkingkommunikation muss gut aufbereitet sein.
Auf welche Punkte müssen Journalistinnen und Journalisten achten?
Da gibt es zahlreiche Punkte. Die Vertrautheit der Falschinformation sollte minimiert werden, indem auf die Erwiderung der wesentlichen Fakten anstatt auf die Fake News selbst konzentriert wird. Medien sollten es also vermeiden, eine Falschnachricht zu wiederholen, und stattdessen auf die korrekten Fakten fokussieren. Aufmerksame Informationsverarbeitung sollte gefördert werden, indem im Text implizit oder explizit aufgefordert wird, sich kognitiv anzustrengen. Dann sollte eine neue, korrekte wissenschaftlich gesicherte Erklärung geliefert werden. Idealerweise ist die Erklärung plausibler als die Falschnachricht, auf jeden Fall sollte sie aber kurz und leicht verständlich sein. Und es sollten Gründe dargelegt werden, warum die Fake News gestreut wird und auch die rhetorischen Strategien der Fake-News-Verbreiter offen gelegt werden.
«Bildliche Darstellungen liefern oft mehr Klarheit und weniger Möglichkeiten für Falschinterpretation»
Auf was noch?
Es sollte einfach und verständlich kommuniziert werden. Medienschaffende sollten Inhalte also kurz, prägnant und leicht lesbar präsentieren. Leicht zu verarbeitende Informationen werden generell eher als korrekt akzeptiert. Eine einfache Fake News ist kognitiv auch attraktiver als eine verkomplizierte Korrektur. Zudem sollten Grafiken und Bilder genutzt werden, die einfach verständlich sind und die Argumente untermauern. Bildliche Darstellungen liefern oft mehr Klarheit und weniger Möglichkeiten für Falschinterpretation.
Der Wissensdurst vor allem zu Beginn der Pandemie war enorm. Haben die Medien hier ihre Chance vertan?
Auch wenn die journalistischen Medien vorsichtig vorgehen, können sie den steigenden Hunger nach mehr und aktuellster Informationen über das Coronavirus längst nicht stillen. Es fehlt an wissenschaftlich gesichertem Wissen dazu. Das wiederum bietet Platz für unbelegte Spekulationen.
Welche Mechanismen bewirken, dass sich Falschinformationen zu Covid-19 im Netz so rasant verbreiten?
Der mediale Wandel führte im Prinzip dazu, dass wir neue Akteure haben, die sich interessensgeleitet und ohne Überprüfung Gehör online verschaffen können. Bei den kommunikativen Praktiken zeigt sich dann, dass mehr Raum für Informationen jeglicher Art ist und somit auch Platz für Verschwörungstheorien oder Fake News. Insbesondere in den sozialen Medien fällt die klassische Gatekeeper-Funktion der qualitativen journalistischen Medien weg. Hier kann im Prinzip jeder behaupten, was er möchte und dabei potentiell ein grosses Publikum erreichen.
«Plattformbetreiber laufen bisher mit den jetzigen Massnahmen nur den Fake News hinterher»
Bei der Verbreitung tragen die sozialen Medien einen wichtigen Teil bei. Wie funktioniert das genau?
Wissenschaftliche Studien bestätigen: Insbesondere auf Social Media-Seiten und kommerziellen oder privaten Webseiten werden Fake News gestreut und können eine hohe Sichtbarkeit erhalten. So kann eine besonders schnelle Verbreitung stattfinden, welche teilweise besser und schneller als wissenschaftlich gesicherte, journalistische Inhalte im Internet verbreitet werden. Fake News werden von vielen Social-Media-NutzerInnen angeklickt, geliked, geshared. Das führt dazu, dass diese Fake News höher gerankt und noch sichtbarer werden können, weil die Suchmaschinen oder Social-Media-Algorythmen, diese deshalb als relevante Information einstufen. Das hohe Ranking führt nun dazu, dass diese Fake News im Allgemeinen für andere Nutzende noch leichter wahrnehmbar sind. Auch wenn die Plattformbetreiber den Fake News zum Coronavirus verstärkt den Kampf ansagen und versuchen valide und offizielle Informationen hoch zu ranken und Falschinformationen zu kennzeichnen oder zu löschen, laufen sie bisher mit den jetzigen Massnahmen doch nur den Fake News hinterher.
Facebook will nun auch für die Schweiz ein eigenes Faktencheck-Team aufbauen. Dabei mithelfen soll die Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Wie wirksam schätzen Sie diese Massnahme ein?
Die Tech-Konzerne müssten, meiner Meinung nach, bei einer Pandemie oder Gesundheitsthemen, wie das Impfen gegen Masern, viel stärker dazu angehalten werden, gegen Fake News anzugehen. Ja, dazu müssen diese mehr Geld in die Hand nehmen, mehr Menschen anstellen, die Fake News aufspüren können, mehr mit unabhängigen Faktenprüfern kooperieren, und mehr mit der sozialwissenschaftlichen, unabhängigen Forschung zusammenarbeiten. Die Konzerne müssten beispielsweise zumindest, wenn Organisationen wie Correctiv ein Fake Video oder einen Post aufdecken, schnellstmöglich die Löschung der Inhalte bewerkstelligen und alle registrierten Userinnen und User, die das Video oder den Post angesehen haben, darüber explizit aufklären. Facebook ist nur eine Plattform von vielen auf denen Fake News kursieren. Youtube und WhatsApp sind wahrscheinlich sogar noch stärker betroffen.
Wie gross ist der Schaden? Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen dazu?
Sowohl Facebook, YouTube als auch WhatsApp sind für die sozialwissenschaftliche Forschung schwer zu untersuchen. Die Grosskonzerne geben keine oder nur selektive Daten für unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen beispielsweise zur Verbreitung von Fake News frei. Niemand weiss, wie viele Posts auf Facebook oder Videos auf YouTube Fake News zum Coronavirus verbreiten, schon gar nicht, wenn man dann noch die verschiedenen Sprachen berücksichtigt. Niemand weiss, wieviel Fake-News-Videos zum Coronavirus von den Plattformen identifiziert und wie viele es nicht werden, wie genau das passiert und wie viele tausende Mal Fake News auf WhatsApp oder im Facebook-Messenger weitergeleitet werden. Die Plattformbetreiber werden immer nur den Fake News-Verbreitenden hinterherlaufen können, wenn keine grundlegend neuen Massnahmen ergriffen werden.
Zurück zu den Demonstranten auf der Strasse: Wenn man diesen Menschen zuhört, ist das Vertrauen in die Medien stark angeschlagen. Gibt es dazu wissenschaftliche Studien?
Das Wissenschaftsbarometer der Schweiz, welches an unserer Abteilung mitentwickelt wird, ist eine repräsentative, telefonische Bevölkerungsumfrage und fragt genau danach: Wie gross ist das Vertrauen der Schweizer in Wissenschaft und Forschung und in die Medienberichterstattung darüber? Es zeigt sich, dass die Schweizer der Wissenschaft und Forschung eher vertrauen und auch die Medienberichterstattung darüber eher als vertrauenswürdig ansehen. Hier kann man jedoch verschiedene Gruppen unterscheiden, so zum Beispiel die grössere Gruppe der sogenannten Sciencephiles, die der Wissenschaft und Forschung stark vertrauen und sich über die verschiedensten Medien darüber informieren. Es gibt aber beispielsweise auch die kleineren Gruppen der Kritisch Interessierten und der Desinteressierten; diese haben klare Bedenken und weniger Vertrauen.
Zum Schluss: Was ist Ihrer Meinung nach massgebend im Kampf gegen Desinformation?
Für einen erfolgreichen Kampf gegen Desinformation muss das Vertrauen in die Politik, Wissenschaft und auch in den Qualitätsjournalismus gestärkt werden. Menschen, die sich über Qualitätsmedien informieren oder direkt bei seriösen Gesundheitsverbänden, sind weniger anfällig für Fake News und vertrauen weniger auf Informationen aus unseriösen Quellen, welche ihnen per Social Media oder in Online-Communities begegnen. Genauso führt ein hohes Vertrauen in die Wissenschaft und in darauf basierende politische Entscheidungen dazu, dass Menschen weniger anfällig sind für Fake News und Verschwörungstheorien.
*Sabrina Heike Kessler ist Oberassistentin / Senior Research and Teaching Associate am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Sie forschte schon vor der Coronakrise zu Gesundheitsmythen, wissenschaftsbezogenen Fake News in den Medien und zu effektiven Debunkingstrategien.
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