09.06.2021

RTR

«Klein zu sein, hat auch seinen Reiz»

Radiotelevisiun Svizra Rumantscha ist die zweitkleinste Unternehmenseinheit der SRG. In seinem ersten grossen Interview spricht der 41-jährige RTR-Direktor Nicolas Pernet über seinen Wechsel zum Service public, über Sprachminderheiten – und den Plan, den Zürichsee zu vergrössern.
RTR: «Klein zu sein, hat auch seinen Reiz»
«Der technologische Wandel spielt auch über 1000 Meter über Meer eine tragende Rolle», sagt Nicolas Pernet, seit Januar 2021 Direktor von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR). (Bild: RTR/Mattias Nutt)
von Christian Beck

Herr Pernet, was finden Sie so richtig «patgific»?
Oh, da gibt es einiges. Beispielsweise beim Skifahren auf einer gemütlichen Sonnenterrasse einen guten Kaffee zu trinken, einen verregneten Sonntag zu Hause mit der Familie zu verbringen oder eine tolle Serie oder Doku auf der neuen SRG-Streamingplattform Play Suisse zu schauen.

Patgific («patschifig») ist Rätoromanisch, ist ein Lebensgefühl und beschreibt friedliche und gemütliche Momente. Wie patgific war Ihr Start bei RTR?
Der Start war sehr gut. Es wurde mir aber auch leicht gemacht. In Chur habe ich ein tolles Team vorgefunden, welches mich sehr herzlich empfangen hat. Ausserdem hat RTR eine übersichtliche, fast schon familiäre Grösse. Somit war es möglich, mir relativ schnell einen guten Überblick zu verschaffen. Weniger patgific war es dann aber, mitten in der zweiten Corona-Welle zu starten, als die Homeoffice-Pflicht wieder verschärft wurde. Abläufe, Menschen oder die alltäglichen, kleinen Herausforderungen lernt man doch besser kennen und verstehen, wenn man auch physisch vor Ort ist. Schliesslich hat dies aber auch so ganz gut geklappt.

Sie waren zehn Jahre in verschiedenen Positionen bei Ringier (persoenlich.com berichtete). Was reizte Sie, vom Boulevard in den Service public zu wechseln?
Unterschiedliches. In erster Linie bin ich überzeugt, dass wir in der Schweiz einen starken, medialen Service public brauchen. Hier eine (mit-)gestaltende Rolle einzunehmen, hat mich sehr gereizt. Diese integrative Funktion, welche die SRG mit ihren viersprachigen, regionalen Unternehmenseinheiten in der Schweiz einnimmt, ist wohl weltweit einzigartig. Und schützenswert. Hinzu kam die Chance, mich für eine Region zu engagieren, welche mir sehr am Herzen liegt und zu welcher ich emotional eine grosse Verbundenheit habe. Persönlich reizte es mich dann auch, nach zehn Jahren mehrheitlichem Fokus auf Online- und Printmedien nun auch zwei neue Mediengattungen – Radio und TV – kennenzulernen und so meinen professionellen Horizont zu erweitern.

«Allem Neuen liegt ein Zauber inne»

Ich habe eine These: Mit 40 Jahren will man nochmals etwas ganz Neues machen. Ist da was dran?
Da bin ich ja mal gespannt, was mit 50 auf mich zukommt … Aber klar, da haben Sie recht. Allem Neuen liegt ein Zauber inne. Der Reiz, gut beschrittene Pfade und das Bekannte zu verlassen und etwas Neues zu beginnen, hat nach zehn Jahren im gleichen Unternehmen sicherlich auch eine Rolle gespielt.

Im Schnitt verdient ein SRG-Geschäftsleitungsmitglied rund 390'000 Franken pro Jahr. Lockte nicht auch das Geld?
Geld war für mich nie eine Motivation, um eine Stelle anzunehmen. Wäre dem so, hätte ich mich nach meiner Promotion sicherlich nicht für die Medienindustrie entschieden. Wenn es nur ums Geld ginge, gibt es viel spannendere Branchen, um Karriere zu machen, wie beispielsweise die Finanz- oder Beratungsindustrie. Ausserdem bin ich überzeugt, dass Geld als Motivator nur sehr kurzfristig wirkt und langfristig schon gar nicht befriedigt. Für mich war immer klar, dass ich dort arbeiten wollte, wo am meisten Dynamik herrscht. Dort, wo die Transformation mit voller Wucht zuschlägt und alles im Umbruch ist. Dort ist es spannend. Und ich bin auch überzeugt, dass gerade an Orten mit hoher Unsicherheit die Lernkurve am steilsten ist.

An den hohen Löhnen und Boni gab es kürzlich Kritik, auch von Medienministerin Simonetta Sommaruga. Finden Sie Ihren Lohn angemessen?
Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass hohe Löhne immer wieder zu Diskussionen und Unverständnis führen. Es ist ein emotionales Thema. Gerade deshalb sollte man Löhne immer in einen gewissen Kontext einbetten. Vergleicht man beispielsweise die Löhne der SRG-Geschäftsleitungsmitglieder mit den Löhnen von anderen Service-public- oder bundesnahen Betrieben, rangieren diese im unteren Drittel. Hinzu kommt, dass sich die Löhne der SRG-Geschäftsleitung seit fünf Jahren um 6 Prozent reduziert haben. Diese Entwicklung finden Sie nur in wenigen anderen Unternehmen und Branchen wieder. Aber klar – wenn es hier Unverständnis und offene Fragen gibt, nehmen wir diese sehr ernst und stellen uns selbstverständlich der Diskussion.

«Für Diskriminierung und Machtmissbrauch ist bei RTR kein Platz»

Für Schlagzeilen sorgten bei der SRG auch Belästigungs- und Mobbingvorwürfe in der Westschweiz und im Tessin. Nahmen Sie dies zum Anlass, auch bei RTR genauer hinzuschauen?
Klar. Bei diesen Themen herrscht Nulltoleranz. Für Diskriminierung und Machtmissbrauch ist bei RTR kein Platz. Und es liegt an der Unternehmensführung, eine Kultur zu schaffen und insbesondere vorzuleben, in der Belästigungen und Mobbing nicht akzeptiert werden. Die Verantwortung für ein Arbeitsklima, in welchem die Würde der einzelnen Mitarbeitenden gewährleistet ist und in dem man offen Dinge ansprechen kann, ist aber nicht delegierbar. Die Verantwortung dafür liegt bei uns allen. Über jede Hierarchiestufe hinweg. Denn Kultur kann nicht verordnet, sondern nur gelebt werden.

Was wurde konkret verändert?
Die damalige Führung unter dem Direktor a.i. – Pius Paulin – hat hier rasch und vorbildlich gehandelt. Einerseits wurde überprüft, ob die bestehenden Instrumente zum Schutz aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausreichten und wo es allfällige Mängel gab. Unsere kulturellen Werte, die definieren, auf welche Art und Weise wir miteinander arbeiten und leben, wurden überarbeitet und präzisiert. Diese Werte wurden dann nicht nur mit unterschiedlichen Massnahmen intern kommuniziert, sondern bei den Führungskräften auch mit in ihre Jahresziele aufgenommen. Zusätzlich wurde dem Thema «Sensibilisierung» hoher Stellenwert eingeräumt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden über verschiedene Kommunikationskanäle darauf aufmerksam gemacht, was sie ganz konkret tun können, wenn ihre eigene Integrität bedroht ist oder sie Zeuge von Fehlverhalten werden.

Sie sind noch kein halbes Jahr im Amt und haben schon einiges angestossen. So sendet Radio RTR aus einem neuen Studio. Wie geht das zusammen mit den Sparbemühungen?
Das Radiostudio und dessen Technik waren 15 Jahre alt. Da hat sich einiges verändert und man musste dies nun einmal auf den neusten Stand bringen. Dieses Projekt ist allerdings eingebettet in ein grösseres Transformations- und Effizienzsteigerungsprogramm, welches wir «RTR 23» nennen. So ist eine neue Technologie nur ein Steinchen im ganzen Mosaik. In Zukunft müssen wir Inhalte noch stärker multivektoriell produzieren und aufbereiten können. Dies fängt bei der Denk- und Arbeitsweise jedes Einzelnen an und hört bei den neuen technologischen Möglichkeiten auf. Um uns für diese Zukunft fit zu machen, arbeiten wir gerade an acht verschiedenen Teilprojekten. Unter anderem restrukturiert unser Chefredaktor Flavio Bundi genau aus diesen Gründen seinen Newsroom. Es ist eine spannende Zeit bei RTR.

Ein weiteres Projekt, das unter Ihrer Leitung umgesetzt wird, ist «Speech to Text». Sie digitalisieren quasi die rätoromanische Sprache. Warum ist Ihnen das wichtig?
Nun ja, der technologische Wandel spielt auch über 1000 Meter über Meer eine tragende Rolle. Konkret geht es beim Projekt «Speech to Text» darum, dass der Computer das gesprochene Wort in einen Text umwandeln kann. Dies ermöglicht uns in Zukunft, aus unserem vielfältigen Audio- und Bewegtbildangebot Texte für unsere digitalen Plattformen zu generieren. Ein weiterer Schritt ist dann, dass wir unsere Sendungen ohne manuellen Aufwand untertiteln können. Das Ganze ist allerdings nicht ganz einfach, da das Rätoromanische aus fünf Idiomen und Rumantsch Grischun besteht. Somit müssen wir dem Computer «Speech to Text» auf sechs unterschiedliche Arten beibringen. Vor zwei Monaten haben wir ausserdem bereits das Folgeprojekt lanciert: «Text to Text». Dabei geht es darum, dass der Computer Romanisch automatisch in Hochdeutsch übersetzen kann – und vice versa. Das ermöglicht uns in Zukunft, Texte aus Kooperationen mit anderen Medienhäusern oder von Nachrichtenagenturen effizienter zu übersetzen.

«Die Zweisprachigkeit war immer Bestandteil meines Lebens»

Sie selber wurden in Sent im Unterengadin geboren. Würden Sie Rätoromanisch noch als Ihre Hauptsprache bezeichnen?
Da meine Eltern Ende der 1970er-Jahre aus dem Kanton Baselland nach Sent gezogen sind, wuchs ich mit beiden Sprachen auf. Zu Hause wurde Deutsch gesprochen. In der Schule – bis und mit dem Gymnasium – Romanisch. Diese Zweisprachigkeit war immer Bestandteil meines Lebens und hat durch meine neue Funktion bei RTR nun wieder verstärkt an Bedeutung gewonnen.

Die vierte Landessprache ist definitiv in der Minderheit. Wo liegen hier die medialen Herausforderungen?
Neben den bekannten Herausforderungen, welche alle Medienmärkte unabhängig von ihrer Grösse betreffen, kommen bei uns noch ein paar spezifische hinzu. Beispielsweise führt die Abwanderung vieler junger Menschen aus den rätoromanischen Kerngebieten zu zwei Effekten. Erstens verzettelte und verbreiterte sich dadurch unser Markt. Zweitens leben diese Personen dann in anderen Sprachregionen, wodurch sie für uns schwieriger zu erreichen sind. Hinzu kommt, dass wir als rätoromanisches Medienhaus eine besondere Rolle auch für die Sprache einnehmen. Indem wir die Idiome täglich gebrauchen und im Alltag leben, tragen wir auch zum Erhalt der romanischen Sprache bei. Hier haben wir also auch eine Art Schutz- und Sensibilisierungsfunktion. Über alle Sprachgrenzen hinweg. Die zentrale Herausforderung ist aber sicherlich, dass der Markt zu klein wäre, um dieses Angebot privat zu finanzieren. Deshalb sehe ich es als absolutes Privileg, dass wir von der SRG – gestützt durch den Gesetzgeber und somit das Schweizer Volk – die Mittel erhalten, um unsere tägliche Arbeit für die rätoromanische Bevölkerung zu leisten.

Zwangsläufig ist RTR – nach Swissinfo.ch – die kleinste Unternehmenseinheit der SRG. Was sind da die Vorteile?
Wir profitieren enorm von unseren grossen Brüdern oder Schwestern, wie beispielsweise SRF oder auch RTS. Dies auf allen Ebenen. Klein zu sein, hat aber auch seinen Reiz. Um eine Metapher zu gebrauchen: Wir können ein wenig als Schnellboot agieren, wendig und flexibel sein. Dinge unkompliziert ausprobieren und von unseren sehr kurzen Abstimmungswegen profitieren. So können wir vermutlich auch schneller auf Veränderungen reagieren als grössere Einheiten. Ebenfalls von Vorteil ist, dass wir durch unsere übersichtliche Grösse und den kleinen Markt eine sehr enge Beziehung zu unserer Hörer-, Zuschauer- und Leserschaft pflegen können. Das Problem bei Schnellbooten ist aber auch, dass Sie damit nicht über den Atlantik kommen. Sie brauchen immer wieder ein grösseres Schiff, an welches Sie andocken können.

Gibt es auch Nachteile?
Dass wir häufig nicht so eigenständig navigieren können, wie wir gerne würden. Nicht, weil wir nicht dürften, sondern weil uns dann doch auch häufig die Realität einholt und uns die Möglichkeiten und Ressourcen fehlen.

«Wir haben vor drei Monaten einen Strategieprozess angestossen»

Wir haben von bereits angestossenen Innovationen gesprochen. Was kommt als Nächstes?
Wir haben vor drei Monaten einen Strategieprozess angestossen. Im Kern geht es um die Frage: «Wie muss RTR 2028 aussehen und was müssen wir heute schon dafür tun?» Dabei geht es um neue Zielgruppen, neue digitale Plattformen und eine Neudefinition unserer Vision. Um in diesem Zusammenhang ein paar konkrete Dinge zu nennen: Wir überarbeiten unsere digitale Plattform, investieren viel in die Digitalisierung der Sprache, erhöhen die Effektivität in der Distribution unserer Inhalte, erreichen neue Zielgruppen mit neuen Services und erhöhen den digitalen Marketingdruck. Es bleibt somit sehr spannend. Ich freue mich darauf.

Gibt es auch etwas, das Sie bei der Blick-Gruppe geschätzt haben und nun bei RTR einführen möchten?
Jedes Medienhaus hat seine Abläufe, seine eigene Kultur und seine Eigenheiten. Das lässt sich schwer vergleichen. Wenn es etwas gäbe, dann würde ich den Zürichsee bis nach Chur ausbaggern, damit man im Sommer über den Mittag darin baden kann. Ob das die Churer allerdings so toll fänden, wage ich zu bezweifeln.

Sie kennen die Privatwirtschaft und nun auch die SRG. Ist es nur ein Gerücht, dass es bei der SRG patgific ist?
Das ist eines der vielen Vorurteile gegenüber der SRG. Dieses Gerücht kann ich allerdings nun aus eigener Erfahrung entkräften. Der Spardruck bei der SRG ist enorm und die Herausforderungen der Transformation sind sehr gross. Wie schon gesagt, bin ich aber gerne dort, wo sich in einem hervorragenden Team etwas in die richtige Richtung entwickelt.



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