14.09.2021

CH Media

«Nicht jeder Klick ist gleich viel wert»

Erste Zwischenbilanz: Anfang Jahr hat CH Media die Newsportale ihrer Zeitungstitel neu lanciert – samt 750 Gemeindeseiten. Was funktioniert, was weniger? Pascal Hollenstein, Leiter Publizistik, und Mathias Meier, Chief Product Officer, geben einen exklusiven Ein- und Ausblick.
CH Media: «Nicht jeder Klick ist gleich viel wert»
Pascal Hollenstein, Leiter Publizistik und Mitglied der Unternehmensleitung (links), und Mathias Meier, Chief Product Officer und Mitglied der Geschäftsleitung Publishing, im Newsroom in der Telli in Aarau. (Bilder: CH Media/Alex Spichale)
von Christian Beck

Herr Hollenstein, wie stark sind Sie daran interessiert, was vor Ihrer Haustür passiert?
Pascal Hollenstein: Die Welt beginnt vor der Haustür und dort liegen auch die Geschichten. Ich bin neugierig und lerne gerne dazu. Dabei habe ich als Journalist ein unglaubliches Privileg: Ich werde dafür sogar noch bezahlt. Das ist ganz wunderbar.

Und Sie, Herr Meier? Sie sind ja noch nicht so lange in der Schweiz (persoenlich.com berichtete). Interessiert Sie das Gemeindeleben?
Mathias Meier: Sagen wir, ich bin noch nicht so lange bei CH Media – gut 15 Monate sind es nun aber schon. In der Schweiz bin ich seit fast 15 Jahren regelmässig, da wir uns über einen engen Schweizer Freundeskreis freuen. Nun lebe ich mit meiner Familie ausgerechnet im schönen Thalwil, zwar in der Mitte unserer Standorte, aber dort, wo CH Media keine Gemeindeseite anbietet. Diesen Service vermisse ich hier. Vor Kurzem habe ich das Seeüberquerungs-Schwimmen verpasst, das wäre mir mit unseren Gemeindeseiten wahrscheinlich nicht passiert.

750 solcher Gemeindeseiten gibt es auf den CH-Media-Newsportalen. Wie viele davon lesen Sie persönlich?
Hollenstein: Immer mal wieder die eine oder andere. Dank unserer Newsportale kann ich aber das Geschehen beispielsweise in meiner alten Heimat, dem Hinterthurgau und der Region Frauenfeld, bestens und hautnah verfolgen.

Meier: Bei mir ist das ähnlich. Ich surfe regelmässig auf zufällig ausgewählten Gemeindeseiten von uns, um zu überprüfen und zu überlegen, ob und wie wir sie zu unverzichtbaren Begleitern unserer Leserinnen und Lesern machen. Unser Anspruch ist langfristig, Services und relevante Informationen zu bieten, so dass der Tag besser startet, wenn er mit einem Blick auf unsere Gemeindeseiten beginnt.

«Wichtig ist, dass man sich stetig verbessert»

Anfang Jahr hat CH Media die Newsportale ihrer Zeitungstitel überarbeitet und neu lanciert. Wie kam der Relaunch an?
Hollenstein: Wir haben überwiegend positives Feedback erhalten, auch wenn es zu Beginn da und dort noch etwas geruckelt hat. Das ist aber ganz normal. Wichtig ist, dass man sich stetig verbessert.

Und was wurde kritisiert?
Hollenstein: In der Nordwestschweiz haben wir mit dem Relaunch auch eine Paywall eingeführt. Das haben gewisse Userinnen und User, die sich an das Gratisangebot gewöhnt hatten, nicht sofort goutiert. Mittlerweile ist unser Modell aber akzeptiert und wir freuen uns gerade in der Nordwestschweiz über steigende Digitalabo-Zahlen.

Wo mussten Sie die Stellschrauben justieren seit dem Relaunch?
Meier: Seit dem Relaunch bieten wir auf der identischen technischen Plattform neun Portale an, von Grenchen bis St. Gallen. Mit einzelnen Angeboten für Web und App, für Apple und Android, für News und das E-Paper kommen wir aber auf fast 50 Produkte. Da gab es ein paar Nacharbeiten, aber keine grossen Anpassungen. Beispielsweise haben wir die Kommentarfunktion nach intensiver Diskussion – auch mit unserem Verleger – wieder etwas stärker eingesetzt.

Und was bedeutet das für die Journalistinnen und Journalisten bei der täglichen Arbeit?
Hollenstein: Wir richten unsere redaktionellen Prozesse ganz auf das Digitalprodukt aus. Das ist nicht trivial, da wir ja auch immer noch gedruckte Zeitungen herstellen. Für die Journalistinnen und Journalisten bringt das eine zusätzliche Belastung. So sehr das direkte Feedback der Userinnen und User auf den digitalen Kanälen auch motivierend wirkt – wir müssen schauen, dass sich die Redaktionen auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können: Geschichten recherchieren und erzählen.

Meier: Genau, wobei alle rund 500 Redaktionsmitglieder der Tageszeitungen dies seit dem Relaunch endlich mit einem einheitlichen Content-Management-System tun.

«Die Produktion der klassischen Zeitungsseiten muss radikal neu organisiert werden»

Und was gibt es noch zu tun? Wo müssen Sie noch korrigieren?
Hollenstein: Wir müssen die Redaktorinnen und Redaktoren von der Print-Zeitungsherstellung entlasten, damit Sie sich auf unsere digitalen Angebote und Geschichten konzentrieren können. Damit so etwas gelingen kann, muss die Produktion der klassischen Zeitungsseiten radikal neu organisiert werden. Daran arbeiten wir derzeit und wir planen, unsere Organisation im Verlauf des Jahres 2022 komplett umzustellen. «Digital First» ist das Schlagwort. Ich verspreche mir von diesem Projekt sehr viel. Denn wenn sich die Kolleginnen und Kollegen voll auf ihre Geschichten konzentrieren können, dann profitiert letztlich der Journalismus. Und damit unsere Leserinnen und Leser.

Die Geschichten stehen im Zentrum. Welche Storys funktionieren besonders gut?
Hollenstein: Das versuchen wir anhand unserer Daten zu analysieren. Wir stehen hier noch am Anfang. Einiges wissen wir aber natürlich schon. Einfach gesagt: Geschichten, die nahe an unseren Leserinnen und Lesern sind, sorgen auch für eine hohe Lesedauer und generieren Abos. Regional aufgestellt, wie wir sind, haben wir hier eindeutig ein Plus. Ebenfalls gut funktionieren Geschichten mit Emotionen. Das sehen wir im Sport, der per se von Gefühlen lebt: Geschichten über die Fussballvereine in unserem Verbreitungsgebiet – FC St. Gallen, FC Luzern, FC Aarau und FC Basel – sind quasi sichere Abo- und Traffic-Bringer.

Wie wissen Sie, dass Geschichten mit Emotionen funktionieren? Messen Sie dies einfach anhand der Klicks?
Meier: Die Anzahl Klicks allein gibt wenig Auskunft darüber, wie zufrieden unsere Kundinnen und Kunden mit den Inhalten sind. Darum werden wir zukünftig verstärkt auf «Media Time», also Verweildauer, achten.

Und bedeuten viele Klicks automatisch auch viele Abos?
Meier: Auf keinen Fall. Und das ist auch okay. Unser Paid-Modell ist bewusst ein Freemium-Modell, für welches unsere Redaktion bewusst entscheidet, welche Inhalte vor der Paywall liegen und welche dahinter. Unser Liveticker zum Hochwasser war beispielsweise «free» und hatte eine überwältigende Reichweite. Service-Stücke wie der Unfallreport oder aufwendige Reportagen sprechen eventuell kleinere Zielgruppen an, erzeugen dafür aber überdurchschnittlich viele Abos.

«Die Abo-Entwicklung direkt nach dem Relaunch war sehr erfreulich»

Ist der Abo-Verkauf auf Kurs?
Meier: Die Abo-Entwicklung direkt nach dem Relaunch war sehr erfreulich, speziell in der Nordwestschweiz, wo es vorher kein Paid-Angebot gab. Die Zuwächse liegen nun immer noch um den Faktor drei über den Wachstumsraten von vor einem Jahr, aber Paid Content ist kein Sprint, sondern ein Mehrkampf: Unsere Wettkämpfe lauten Wiederkehr und Verweildauer erhöhen, Abo-Abschlüsse steigern und lange Haltbarkeit der Kundenbeziehungen gewährleisten. Ende dieses Jahres werden wir die Digitalabos – also Abo+ und E-Paper – mit rund 35'000 mehr als verdoppelt haben. Ohne Schnupperabos.

Was ist nötig, um hochwertigen Journalismus finanzieren zu können?
Meier: Das ist eine gute Frage und sie ist aktuell nicht so einfach zu beantworten. Für längere Zeit werden wir noch das Print- und Digitalangebot parallel betreiben und auch die Mischfinanzierung von Nutzer- und Werbemarkterlösen haben. Wie das Preisniveau in Zukunft aussieht, ist schwierig zu sagen. Was wir wissen, ist, dass es einen Bedarf an unabhängigem Journalismus gibt. Und auch an qualitativ hochstehenden Informationen und an Marken, die dies verkörpern. Das bieten wir. Nun hatten wir bereits mehrere Monate seit dem Relaunch, in denen unsere Gesamt-Abonnentenzahl wieder angestiegen ist, also die Zahl an Print-, E-Paper- und Digitalabos kombiniert wächst. Diese Entwicklung stimmt uns sehr zuversichtlich und es gilt, diese fortzuführen, um schliesslich kontinuierlich Umsatzwachstum aus digitalen Erlösen zu gewährleisten. Hier sind wir auf einem guten Weg, der aber eben Ausdauer erfordert.

Paywalls bedeuten häufig auch einen Einbruch der Reichweite. Wie hat sich der Traffic zum Beispiel der Aargauer Zeitung entwickelt?
Meier: Erfreulich stabil.

Ist CH Media seit dem Relaunch der Newsportale klickgetriebener geworden?
Hollenstein: Wenn Sie damit meinen, dass wir nur noch auf den Traffic schauen – dann nein. Nicht jeder Klick ist gleich viel wert, wie mein Büro-WG-Mitbewohner bereits erläuterte (Anm. der Red.: Hollenstein und Meier teilen sich ein Büro). Mit endlosen Bildstrecken macht man keine Abos und hält auch die Abonnentinnen und Abonnenten nicht bei der Stange. Die Kennzahlen, an denen wir uns ausrichten, sind: Zeit, die unsere Nutzer auf unseren Seiten bleiben, die Conversion Rate und die Zeit, die unsere Abonnenten bei uns verbringen. Wir orientieren uns also am längerfristigen Interesse unserer Leserinnen und Leser. Dazu gehört ein hoher journalistischer Qualitätsstandard. Dieser ist unverhandelbar – Klicks hin oder her.

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Eine neue Zusammenarbeit gibt es mit den Today-Portalen. Wie läuft's?
Hollenstein: Sehr gut. Die Today-Portale sind gratis und sie richten sich an ein anderes Publikum als unsere Bezahlportale. Das ist in gewisser Weise zwar ein Zielkonflikt und setzt der Zusammenarbeit Grenzen, aber das haben wir gelöst. Und umgekehrt können wir voneinander auch profitieren. Um das zu erreichen, haben wir klare Spielregeln definiert und überprüfen diese auch regelmässig. Paid-Artikel werden nur begrenzt und nie eins zu eins übernommen; die Auffindbarkeit über Google ist eindeutig dem Ursprungsartikel zugeordnet usw. Die Zusammenarbeit auf dieser Basis läuft gut. Auf der persönlichen Ebene ohnehin.

Schon bald startet auch ZüriToday. In Zürich ist CH Media aber weniger präsent mit den Zeitungen. Wie wird hier die Zusammenarbeit aussehen?
Hollenstein: Wir haben im Kanton Zürich immerhin die «Limmattaler Zeitung». Aber es ist schon richtig: Regional wird die Zusammenarbeit weniger intensiv sein als in der Ost- und Zentralschweiz oder im Aargau. Umgekehrt strahlt Zürich ja auch in die ganze Deutschschweiz aus. Ich denke, wir können da von ZüriToday profitieren.

Herr Meier, wie erwähnt sind Sie neu bei CH Media. Früher arbeiteten Sie bei Axel Springer für die Bild. Hatten Sie beim Wechsel einen Kulturschock?
Meier: Überhaupt nicht. Meine Kolleginnen und Kollegen hier brennen mindestens ebenso für ihre Marken und ich schätze die Schweizer Kultur sehr.

«Wir sind emphatisch und besonnen»

Welches sind die grössten Unterschiede?
Meier: Ich wurde öfters auf die Unterschiede der Zahlen angesprochen, dies war für mich nie ein Thema. Sowohl mein ehemaliger Arbeitgeber als auch unsere Nachrichtenportale versuchen, möglichst nah an der Zielgruppe zu sein und relevante Inhalte zu bieten, beide aber auf komplett unterschiedliche Weise. Die «Bild» ist laut und polarisierend, wir sind emphatisch und besonnen. Weitere Unterschiede: Videos hatten auf dem deutschen Markt grosses Potenzial als Abo-Quelle, auf dem Schweizer Markt sind sie noch kein Abo-Treiber. Und Gewinnspiele für unsere Kunden sind hier rechtlich komplizierter.

Wo sahen Sie bei CH Media einen Nachholbedarf?
Meier: Wie Pascal bereits schilderte, allem voran beim Thema Data. Handlungsempfehlungen aus Zahlen ableiten für die Redaktion, für das Marketing und die Produktentwicklung – das gab es kaum. Dazu waren einige Fachbereiche zentralisiert, haben sich also um unsere Bezahlmedien, Gratisportale, TV-, Radio- und Special-Interest-Angebote gekümmert. Dies haben wir aufgeteilt, um einen vollen Fokus auf die unterschiedlichen Strategien und Aufgaben zu erzielen. Ausserdem haben wir uns intensiv mit der User Journey beschäftigt, also wie die Userinnen und User auf unsere Bezahlschranke stossen – ob über Artikel oder Marketingkampagnen. Hier wollen wir es unseren Leserinnen und Lesern so einfach, verständlich und bequem wie möglich machen, damit sie zu zufriedenen Abonnentinnen und Abonnenten werden.

Blicken wir vorwärts: Wohin geht die Reise?
Meier: Wir glauben aus tiefer Überzeugung an die Nähe zu unseren Leserinnen und Lesern, die unverzichtbare Relevanz und den Unterhaltungswert von lokalem Journalismus. Und wir spüren, dass die Regionalität und das Heimatgefühl auch für jüngere Menschen wieder wichtiger werden. Hierfür ein zukunftsträchtiges Geschäftsmodell zu entwickeln, ist unser Antrieb. Und ein paar Überraschungen haben wir auch noch auf Lager, an denen unsere Leserinnen und Leser ihre Freude haben werden.

Hollenstein: Mit unseren Digitalprodukten wollen wir dem Journalismus in unseren Regionen eine Zukunft sichern. Das ist das Ziel. Der Weg dahin wird nicht einfach sein. Aber wir sind überzeugt, dass wir es schaffen können.



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