22.11.2019

Journalismus in der Krise

«Pseudojournalismus macht sich mehr und mehr breit»

Rückhalt für den Journalismus im Social-Media-Zeitalter: Die Eidgenössische Medienkommission schlägt Massnahmen gegen die Medienkrise vor – darunter eine Berufszertifizierung oder ein Gütesiegel. Präsident Otfried Jarren konkretisiert die Ideen im Interview. Dabei kritisiert er die Verlage scharf.
Journalismus in der Krise: «Pseudojournalismus macht sich mehr und mehr breit»
«Die Branche ist verwöhnt, machtorientiert und sie scheut den Markt»: Otfried Jarren, Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK). (Bild: Keystone/Peter Schneider)
von Michèle Widmer

Herr Jarren, die EMEK sorgt sich um den Journalismus im digitalen Zeitalter und hat einen 19-seitigen Diskussionsbeitrag verfasst. Welche Hauptprobleme sehen Sie?
Journalistische Leistungen sind im digitalen Nachfragemarkt immer weniger als Leistungen von Journalistinnen und Journalisten zu erkennen. Die Marken von Medien sind schwach, sie verblassen auch aufgrund der dynamischen, schnellen Nutzung durch die Konsumentinnen und Konsumenten. Die Erkennbarkeit von – insbesondere qualitativ hochwertigen – journalistischen Produkten sollte sichergestellt werden. Pseudojournalismus macht sich mehr und mehr breit. Journalistische Leistungen aber sind mit einem qualitativen Versprechen an die Gesellschaft verbunden, das muss deutlich werden.

Das Papier eruiert fünf Handlungsfelder. Welche sind das, und warum?
Es geht darum, die Gesellschaft für journalistische Leistungen zu sensibilisieren: Was ist ein journalistisches Produkt? Wer erbringt diese Leistung? Wie wird das Produkt erstellt? Was sind die professionellen Regeln für die Erstellung, worauf kann sich der Konsument wie die Konsumentin verlassen? Warum haben journalistischen Leistungen einen Preis, was begründet den Preis wie seine Höhe? Die Medienunternehmen wie die Journalisten tun dies nicht. Und im Markt werden von Verlagen einerseits nach wie vor kostenlos journalistische Leistungen verschenkt. Auf der anderen Seite zieht man Paywalls ein und erwartet die Bezahlung. Was wollen die Verlage eigentlich? Was ist ihr Geschäftsmodell, ihr Geschäftsprinzip? Haben ihre Produkte einen Wert, sind sie etwas wert oder sind sie nur von der Werbung bezahlt, um Menschen zum Konsum zu verleiten oder zu verführen?

«Die Werbefinanzierung hat die hohen Fixkosten, somit auch die Kosten für den Journalismus, verdeckt»

Ein Problem ist also ein widersprüchliches Verhalten der Verlage?
Das Vorgehen einer Reihe von Medienunternehmen ist ökonomisch problematisch, es ist nicht nachhaltig, und ja, es ist widersprüchlich. Journalismus erfordert Aufwand, kostet Ressourcen, hat daher einen Preis. Wir müssen lernen, über Preise und Leistungen für journalistische Produkte nachzudenken. Und wir müssen in der Gesellschaft ein Preis-Leistungs-Verhältnis auch für die Produkte etablieren.

In der Schweiz wird zu wenig über Wert und Leistung von Journalismus diskutiert, sagen Sie. Woran liegt das?
Es ist ein Problem der Medienunternehmen: Für bestimmte Produkte wird kein Preis verlangt. Warum? Wer gegen Gebühr Programme nutzt, kennt allenfalls die monatliche Gesamtgebühr, aber nicht den Preis für eine einzelne Leistung.

Die Verlage sind schuld, weil sie ihre Inhalte im Netz seit Jahren gratis anbieten?
Medienunternehmen scheuen den Markt und den Wettbewerb bei den journalistischen Produkten. Vor allem Verlage scheuen den Wettbewerb. Sie haben sich ihre Angebote lange Zeit über die Werbung finanzieren lassen, und sie sind damit sehr reich geworden. Traumrenditen wurden erzielt, und noch heute sind die Renditen beachtlich. Die Werbefinanzierung hat die hohen Fixkosten, somit auch die Kosten für den Journalismus, verdeckt. Diese Bedingung hat zudem zu keiner journalistischen Profilierung geführt. Standardisierung, Imitation als Geschäftsmodell. Alle Unternehmen haben Gleiches geboten, allenfalls wurde politisch-inhaltlich variiert. Dieser Mangel an Qualität wird nun sichtbar.

«Die Reflexion über Medienqualität ist erschreckend unterentwickelt»

Sie ziehen im Diskissionpapier Osteuropa und die USA als Beispiel heran, wo aufgrund der harschen Medienkritik von Populisten eine Debatte lanciert worden ist. Wünschen Sie sich mehr öffentliche Kritik an den Medien in der Schweiz?
In der Tat: Über Medien sowie Medienqualität muss diskutiert werden. Die Unternehmen, die Journalisten aber auch, scheuen diese Debatte. Die Medienbranche insgesamt gehört zu den wenigen Branchen in der Gesellschaft, in denen kaum explizite Qualitätssicherungssysteme existieren. Man spricht von Qualität, doch sind die Prozesse unklar. Man spricht von Qualitätsmedien, vermeidet aber jeglichen Vergleich – sogar auf der Stufe der Branche. Wo ist die Selbstkritik? Wo ist die Medienkritik? Die Reflexion über Medienqualität ist erschreckend unterentwickelt.

Wie erklären Sie sich dieses Defizit?
Man konnte sich zu Zeiten der Monopole durchmogeln. Jetzt aber können die Konsumenten auf Social Media vergleichen und direkt kommentieren und kritisieren. Kritik in dieser Form und Intensität – das hätten die klassischen Medien nicht zugelassen. Kritik wurde verbannt, kanalisiert, ignoriert – obwohl man behauptet, in einem Markt zu agieren. Die Zeit der Monopole ist vorbei. Nun ist der Markt offen – und es gibt kritische Stimme in grosser Zahl. Die Branche muss nun lernen, wie sie mit den Konsumenten umgeht. Die Zeit der zynischen Reaktionen ist vorbei, man hat sich um die Konsumenten zu bemühen und muss deren Ansprüchen auch genügen. 

Welche Massnahmen schlagen Sie vor, um diese Werte-Debatte von den Fachgremien und Verbänden nach aussen zu tragen?
Die Branche muss sich intensiv mit den oben genannten Defiziten befassen – nicht weil die EMEK das will, sondern weil der Markt das erfordert. Die publizistischen Leistungen sind überprüfbar und werden nun auch immer mehr überprüft. Die Abstimmung mit den Füssen hat begonnen, die jungen Menschen laufen den traditionellen Medien in Scharen davon. Die Medienunternehmen wie die Journalisten müssen sich nun um neue Ansätze bemühen. 

Sie schlagen vor, die bestehenden Verhaltensregeln von Institutionen wie Presserat, UBI sowie den Ombudsstellen der einzelnen Medienhäuser zu erweitern. Wo sehen Sie konkret Lücken?
Es ist Sache der Branche, die nötigen Dialoge zu führen und Massnahmen zu ergreifen. Wir wollen als EMEK dazu Anstösse liefern, mehr nicht. Aber wer jetzt öffentliche Mittel verlangt, wer gefördert werden will, der sollte schon sagen: Warum? Was ist unsere genuine Leistung? Für welche Qualitäten stehen wir? Warum sind wir so wichtig, dass es gar einer weiteren Förderung bedarf? 

«In vielen anderen Branchen sind Zertifizierungen üblich, so in der Landwirtschaft oder auch in der Wissenschaft»

Die EMEK stellt eine branchenweite Standardisierung für den Journalistenberuf zur Diskussion, inklusive Berufszertifizierung. Wie wäre das in der Realität umsetzbar?
Wir verfolgen keine Standardisierungspläne. Es ist Sache der Branche, das Berufsbild zu klären, professionelle Standards aufzustellen und deren Erfüllung zu prüfen und Qualitätsansprüche zu definieren. Die Branche handelt – oder sie lässt es. Die Zertifizierung von Produkten der Journalistinnen und Journalisten kann Sinn machen mit Blick auf die Konsumenten, damit sie wissen, ob sie einem Angebot vertrauen können.

Damit journalistische Inhalte in sozialen Medien besser erkennbar sind, schlagen Sie ein eigenes Label vor. Wie stellen Sie sich das vor?
Wir regen an, dies zu prüfen. Das Ob wie Wie ist Sache der Branche. Ein Label signalisiert: Das Angebot wurde in Anerkennung professioneller Standards und Regeln erstellt. Die Nutzerin wie der Nutzern kann sich darauf verlassen, dass die Regeln guter journalistischer Arbeit eingehalten wurden. Ein Gütesiegel kann das bestätigen und dem Nutzer signalisieren. Zudem wird Journalismus durch ein Label journalistische von anderen Angebote unterscheidbar. In vielen anderen Branchen sind Zertifizierungen üblich, so in der Landwirtschaft oder auch in der Wissenschaft. Die Medienbranche steht abseits, aber sie verlangt öffentliche Anerkennung, sogar öffentliche Mittel. Was rechtfertig diese Forderungen? Qualität gilt es zu sichern, und es muss gegenüber der Gesellschaft gezeigt werden, wie man das tut. Wer anderen auf die Finger schauen soll und will, muss sich selbst auf den Prüfstand stellen. Die Öffentlichkeits- wie Qualitätsdefizite der Massenmedien sind doch sehr gross. Ob Transparenzregel oder Good-Goverance-Bestimmungen – Fehlanzeige. Die Medienunternehmen sind weit entfernt von verantwortungsbewussten Organisationen.

Wer könnte ein solches Gütesiegel verantworten?
Das ist Sache der Branche. Sie muss, beziehungsweise kann das tun. Das kann nicht verordnet werden. Denkbar wäre aber beispielsweise der Presserat, dann mit einem erweiterten Auftrag. 

Der «Magazin»-Journalist Hannes Grassegger hat kürzlich ein eigenes Social Network für die Schweiz vorgeschlagen (persoenlich.com berichtete). Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag?
Das ist ein innovative Idee. Mal sehen, ob sich innovative Unternehmerinnen oder Unternehmer finden. 

Zum Schluss regt die EMEK an, die Diskussion proaktiv zu führen. Wen sprechen Sie da konkret an?
Ganz klar: Die Branche. Sie muss, wenn sie denn eine Branche ist oder sein will, aus ihrer selbstgewählten isolierten Postion herauskommen. Ist sie denn noch eine Branche? Sie ist verwöhnt, machtorientiert und sie scheut den Markt. Die Massenmedien stehen vor erheblichen Problemen. Sie lassen sich lösen, aber eben nicht mit Subventionen allein. Medien wie Journalismus müssen uns wieder überzeugen wollen, dass sie wichtig sind für die Gesellschaft. Es muss nun aber klar und deutlich werden: Was bitteschön leisten die Massenmedien für die Gesellschaft, was Social Media und Co nicht bieten?  



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Kommentare

  • Thomas Binder, 22.11.2019 11:58 Uhr
    Medienexpe​rten und Journalisten debattieren endlos lange darüber, weshalb mittlerweile fast alle klassischen Medien immer mehr Konsumenten verlieren. Dabei ist das scheinbar unglaublich Komplizierte in Wahrheit fast immer ganz einfach: Immer mehr Menschen realisieren, dass die überwiegende Mehrheit der Journalisten nichts anderem mehr verpflichtet ist als ihrer Karriere, ihren Brötchengebern und ihren Einflüsterern und hören und lesen deshalb bald keinem der sie desinformierenden Storyteller mehr zu. Der sich in einer freiheitlichen Demokratie und hoch gebildet Wähnende kann viel leichter und eleganter manipuliert und indoktriniert werden als der sich in einer Diktatur oder Wahloligarchie Wissende vergleichsweise Ungebildete. Spätestens seit 9/11 ist für den psychologisch, soziologisch und am Zeitgeschehen Interessierten offensichtlich, dass wir in einem invers totalitären System (nach Sheldon Wolin) leben. Im Gegensatz zu den Bewohnern beispielsweise der DDR realisieren wir dies grossmehrheitlich noch nicht. Was für die Bevölkerung der DDR damals die Westmedien waren, ist für uns heute das (noch) ziemlich freie Internet. Die "Aktuelle Kamera 2.0" werden immer weniger Menschen schauen, und die Medien müssen so lange den Bach hinunter gehen, bis sie sich umbesinnen. Aussitzen geht nicht, denn Unmoral und Ungerechtigkeit kann mittel- bis langfristig niemals verteidigt werden, auch nicht mit der intensivsten PRopaganda und auch nicht mit der brutalsten Gewalt. Wir zwingen unsere Medien durch Konsumentzug dazu, uns nur noch mit nachprüfbaren Fakten respektive jeweils mit allen Narrativen zu bedienen, anstatt uns weiterhin ungefragt mit PRopaganda zu bombardieren. Das erste relevante klassische Medium, welches dies umsetzt, wird wie Phönix aus der Asche aufsteigen. Nebenbei wird mancher dessen Journalisten den Pulitzer Preis gewinnen. Die letzten von ihnen werden von der Geschichte bestraft werden und können nur noch das Licht im Newsroom löschen.
  • Sebastian Renold, 22.11.2019 10:18 Uhr
    Weder Subventionen noch Gütesiegel verbessern den Journalismus: Beide werden von irgend jemandem verliehen, und da stellt sich die Frage: von wem? Unter den gegebenen Verhältnissen ist zu bezweifeln, dass es dabei um Qualität und nicht erneut um Macht und Einfluss geht.
  • Ueli Custer, 22.11.2019 09:03 Uhr
    Ich kann Otfried Jarren nur zustimmen. Warum zeigt man bei grösseren Artikeln nicht auf, welcher Aufwand dahinter steckt? Wie ist man auf das Thema gestossen? Wie viele Gespräche hat man geführt? Wie viel Zeit verging vom ersten Anstoss bis zur Publikation? usw. Das wäre Transparenz, die auch aufzeigen würde, warum Journalismus teuer ist.
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