Vergangene Woche war ich bei den Bundesratswahlen. Kurz nach seiner Verabschiedung im Nationalratssaal beobachtete ich, wie Alain Berset mit grossem Hut und in Begleitung einer Weibelin fast unbemerkt die grosse Treppe des Bundeshauses hinuntereilte und das Gebäude verliess. Ein symbolträchtiges Bild, das ein bisschen an Napoleon erinnerte, als er von Frankreich nach St. Helena aufbrach. Mit Berset tritt wohl jene Persönlichkeit von der ganz grossen Bühne, die die Schweiz dieses Jahr medial am meisten geprägt hat. Angefangen im Januar, als die Schweiz-am-Wochenende-Journalisten Patrik Müller und Francesco Benini den E-Mail-Verkehr zwischen Bersets Kommunikationschef und Ringier-CEO Marc Walder publizierten. Dieser sollte beweisen, dass der Corona-General die Ringier-Medien über seine kommenden Polit-Massnahmen vorinformierte, um anschliessend das Bundesratskollegium via Blick vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Ganz geklärt wurde der Fall nie, gab aber dem alten Slogan «Blick war dabei» neue Bedeutung. Der parlamentarische Untersuchungsbericht, pünktlich zum Jahresende publiziert, liess alle Deutungen zu. Berset, der noch amtierende Bundespräsident, der bislang souverän geschwiegen hatte, liess sich zur empörten Aussage hinreissen, dass es 2023 kein wichtiges Bundesratsthema ohne Leaks gegeben hätte. Es klang wie ein verdächtiger, aber nicht überführter Brandstifter in Bern, der sich urplötzlich über die grossen Waldbrände im Amazonas enervierte. Trotzdem muss man Alain Berset dankbar sein: Der grösste Medienstar dieses sonderbaren, von politischen, aber auch wirtschaftlichen Hiobsbotschaften geprägten Jahres, schenkte uns auch noch den schönsten Medienskandal und bewies damit, dass sogar Schweizer Politik spannend sein kann. Bei Watergate musste man noch einbrechen, um an sensible Infos zu gelangen, in der Schweiz werden sie freiwillig rausgegeben.
Das Jahr 2023 war wie der Titel eines aktuellen Films: «Une année difficile». Auf eine Kürzestformel gebracht: In der Ukraine herrscht weiterhin Krieg, in Israel brach er aus, die Credit Suisse ging unter – und die Schweiz setzt weiterhin auf Konkordanz. Auf unsere Branche bezogen: Mittlerweile geht jeder zweite Medienfranken an Google und Co, viele Medienunternehmen, allesamt aus der Kommunikationsbranche, kündigen Entlassungen und Einsparungen an, wobei diese – mit Ausnahme von CH Media – meist gar nicht richtig kommuniziert werden. Lediglich die Werber bleiben euphorisch, trotz der rückgängigen Budgets und immer struberen Restriktionen. Es gehört wohl zu den Gesetzmässigkeiten dieser Branche, dass Werber sogar noch von der Wasserqualität schwärmen, wenn ihnen dieses unter der Nase steht.
Auch für die SRG war 2023 ein besonderes Jahr: Bedroht durch die «200-Franken-ist-genug-Initiative» sieht sie sich nach den goldenen Leuenberger-Leuthard-Sommaruga-Jahren erstmals mit einem Medienminister konfrontiert, der dem vermeintlichen «Staatsunternehmen» nicht jeden Wunsch von den Augen abliest. Mehr noch: Albert Rösti gehörte sogar noch zu den Mitinitianten der SRG-kritischen Initiative. Trotzdem ist die Trutzburgerhaltung der SRG gemäss der Devise, wir geben keinen Meter preis, wohl nicht mehr ganz zeitgemäss. Um mich selbst zu zitieren: Die SRG empfindet sogar den Wechsel von einem Ferrari auf einen Mercedes als diskriminierend. Von SRG-Präsident Jean-Michel Cina, dem alten Politfuchs aus dem Wallis, wäre mehr politisches Feingefühl zu erwarten. Als ehemaliger CVP-Fraktionschef ist er Krisensituationen gewohnt: Vor genau zwanzig Jahren dirigierte er die Abwahl von Ex-Bundesrätin Ruth Metzler. Die Zeiten, als «No Billag» initiiert wurde, liegen bereits wieder sechs Jahre zurück. Und auch das Wohlwollen gegenüber der SRG ist heute vielerorts ein anderes. Obwohl – und das muss positiv vermerkt werden – die SRG immer wieder durch ihre Programme besticht: «Davos 1917» ist ein gutes Beispiel dafür.
Bemerkenswert an diesem Jahr waren die verschiedenen Entlassungen wegen #MeToo. Die Entwicklung schwappte von den USA nach Deutschland (Fall Julian Reichelt) über und ist nun definitiv in der Schweiz angelangt. So mussten unter anderem bei Ringier, bei der Republik und auch beim Magazin prominente Redaktoren und Führungskräfte wegen bewiesenen – aber eben auch unbewiesenen oder zumindest diffusen – Vorwürfen den Hut nehmen. Der bekannteste Fall war jener von Finn Canonica beim Magazin, den Roger Schawinski zum beachtenswerten Buch «Anuschka und Finn» inspirierte, das er in der ersten Jahreshälfte im Eigenverlag publizierte. Interessant, wie die Verlagshäuser die verschiedenen Vorwürfe kommunizierten: Während sich die Communiqués von Ringier durch eine fast schon übertriebene Transparenz auszeichneten, schweigt Tamedia im Fall Canonica eisern. Bis jetzt. Und wohl auch darüber hinaus. Ein bisschen salopp formuliert: 2023 drohten in den unteren Etagen Entlassungen aufgrund der wirtschaftlichen Lage, in den oberen wegen #MeToo.
Und jetzt neigt sich dieses sonderbare Jahr langsam zu Ende. Tröstlich hingegen, dass es die meisten Medientitel immer noch gibt. Ich mag mich gut an den Besuch meines ersten Medienkongresses vor 21 Jahren im noblen Suvretta-Hotel in St. Moritz erinnern. Der Himmel strahlend blau, die Berge im gleissenden Sonnenlicht, man trank Champagner, war gut gelaunt. Der Redner auf der Bühne prophezeite für die kommenden zwei Jahrzehnte den Untergang aller Printmedien und den absoluten Durchbruch des Internets. Man klatschte und trank nochmals Champagner. Mittlerweile hat sich die Welt geändert: Champagner wird an den Medienanlässen keiner mehr getrunken, dafür gibt es die meisten, vom permanenten Untergang bedrohten Zeitungstitel noch. Das ist tröstlich und zeigt, dass selbst in der Medienbranche die Welt anders verläuft, als alle prophezeien.
Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachtstage und ein erfolgreiches 2024.
In der Serie «Das war 2023» greifen wir die grossen Themen des Jahres in kompakter Form nochmals auf. Hier finden Sie die Übersicht.
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01.01.2024 09:51 Uhr