09.03.2022

Tatort

«Jeder Kriminalfall ist ein Prototyp»

Am Sonntag erscheint mit «Schattenkinder» der dritte «Tatort» aus Zürich und der erste von Contrast Film. Laut Produzent Ivan Madeo ist diese Folge «atmosphärischer, düsterer und morbider» als andere Fälle. Ein Gespräch über Kahlrasuren, Künstler und Kritiken.
Tatort: «Jeder Kriminalfall ist ein Prototyp»
«Ich war umso dankbarer, dass wir gute Darsteller fanden, die sich so eine Kahlrasur leisten konnten», so Ivan Madeo, Produzent bei Contrast Film in Zürich. (Bilder: SRF/Sava Hlavacek, zVg)
von Christian Beck

Herr Madeo, haben Sie sich schon einmal den Kopf kahl rasiert?
Nein, das habe ich noch nie. Aber ich stelle es mir extrem befreiend vor. Vielleicht sollte ich das einfach mal machen.

Ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich auf die Einstiegsszene zum neuen «Tatort» zu sprechen komme: Da erhalten drei Darsteller eine Glatze. Wie nervös waren Sie, dass diese Szenen auf Anhieb funktionieren?
Sehr. Denn das ist eine Szene, die man nicht wiederholen kann. Sie muss beim ersten Versuch sitzen – und das gleich dreimal, bei drei wichtigen Darstellern dieser «Tatort»-Episode.

Was macht man in so einem Fall, wenn etwas in die Hose geht? Haare wieder ankleben?
Man müsste wohl mit Perücken arbeiten und diese dann wieder rasieren. Aber das würde nicht gut aussehen, erstens weil sich Perückenhaare nicht gleich gut schneiden lassen wie echte Haare. Und zweitens, weil das Kahlrasieren der eigenen Haare eine Emotion auslöst, die für die schauspielerische Leistung wichtig ist.

Ist es schwierig, Schauspielerinnen und Schauspieler zu finden, mit der Auflage, dass sie sich den Kopf kahl rasieren lassen müssen?
Das ist in der Tat nicht einfach, weil viele Schauspieler vor und nach dem Dreh eines Films weitere Film- und Theaterengagements haben. Damit können sie Anschlussprobleme in laufenden Produktionen bekommen oder nicht mehr in eine gewünschte Rolle passen. Ich kann die Zurückhaltung bei solchen Anfragen sehr gut verstehen und war umso dankbarer, dass wir gute Darsteller fanden, die sich so eine Kahlrasur leisten konnten.

«Die Pandemie hat leider gar nicht geholfen»

Immer wieder gibt es Szenen auf Zürichs Strassen. Mussten Sie jeweils alles absperren lassen? Oder spielte Ihnen die Coronapandemie in die Hände?
Wir haben jene Strassen und Plätze absperren lassen, wo wir für längere Zeit abgeschirmt und in Ruhe arbeiten mussten. Das war vor allem bei Verfolgungsjagden, Fahr-, Schiess- und Stuntszenen der Fall. Und die Pandemie hat leider gar nicht geholfen, weil es wegen Corona schlicht zu wenig Leute auf den Strassen hatte, die wir als Statisten nutzen konnten. Wir mussten jede einzelne Person ins Bild stellen, auch in der Ferne. Das Leben im öffentlichen Raum sollte ja ganz natürlich wirken.

Es gibt auch einige Luftaufnahmen. Was musste bei den Drohnenaufnahmen beachtet werden?
Technisch gesehen ist es das Übliche: Es gibt gewisse Gebäude und Quartiere in einer Stadt, die aus Sicherheitsgründen nicht überflogen werden dürfen. Und dann kann das Wetter, der Wind, der Sonnenstand, allfälliger Sahara-Sand – wie wir ihn hatten – eine Rolle spielen. Inhaltlich gesehen mussten wir uns auf jene Stadtteile Zürichs konzentrieren, die für unseren Kriminalfall relevant waren, und sie von einer Position aus anfliegen, die nicht zu viel und nicht zu wenig von der Story verriet.

Eine in Plastik eingewickelte Leiche als Kunstinstallation mit schwarz tätowierten Augen: Kriminaltechniker Noah Löwenherz findet dies «das Krasseste», das er je gesehen hat. Wie gruselig finden Sie «Schattenkinder»?
Mir gefällt es sehr, dass wir mit «Schattenkinder» einen «Tatort»-Fall realisieren durften, der atmosphärischer, düsterer und morbider daherkommt als die üblichen Kriminalfälle. Die Gemeinschaft rund um Künstlerin Kyomi ist wirklich ziemlich bizarr. Den fast rituell inszenierten Leichenfund haben Sie selbst angesprochen. Und dann gibt es weitere dunkle Elemente in dieser Episode, die ich nicht verraten möchte.

«Der Abgrund ist der Fundus für unsere Geschichten und Konflikte»

Suizid wird im Film mehrmals thematisiert. Wenn Medien über Suizid berichten, werden oft Infoboxen mit Hilfsangeboten publiziert (persoenlich.com berichtete). Wie gehen Filmemacher mit dieser heiklen Thematik um?
Nach meiner Erfahrung gehen Filmschaffende relativ professionell mit dem Thema Suizid sowie mit anderen psychischen Krankheiten und allgemein psychologischen Themen um. Wir leben vom Dysfunktionalen, vom Abnormalen, von Schmerz und Enttäuschung. Das klingt jetzt etwas dramatisch, so ist es nicht gemeint: Der Abgrund ist der Fundus für unsere Geschichten und Konflikte, für unsere Inspirationen und Inszenierungen. Bei Kriminalfilmen wie dem «Tatort» umso mehr.

«Schattenkinder» ist der dritte Fall des «Tatort»-Teams aus Zürich und der erste von Contrast Film. Was macht diesen Fall besser als die ersten zwei?
Ob und was diesen Fall besser macht als andere, muss das Publikum entscheiden. Für uns von Contrast Film war es die erste von zwei tollen «Tatort»-Produktionen mit dem SRF und der ARD Degeto – und wir sind rückblickend sehr glücklich: mit der Drehbucharbeit, mit den Autorinnen und den Redaktorinnen, mit Regisseurin Christine Repond, mit den zwei Hauptdarstellerinnen Carol Schuler und Anna Pieri Zürcher und einem geschlechtlich ausgeglichenen Cast. Alles in allem mit ungewöhnlich vielen und wirklich wunderbaren Frauen.

«Es ist immer das gleiche Ritual: Kaum ist ein Schweizer ‹Tatort› über den Bildschirm geflimmert, basht es aus allen Ecken», schrieb persoenlich.com-Verleger Matthias Ackeret. Haben Sie Angst vor der Kritik, die noch kommt?
Sagen wir es so: Wir haben grossen Respekt vor den Reaktionen des Publikums und akzeptieren selbstverständlich auch Kritik. Das muss jede Produktion, die ein sehr breites Publikum anspricht. Und beim «Tatort» reden wir von einem absoluten Spezialfall eines Publikumsfilms: Im ganzen deutschsprachigen Raum schauen bis zu elf Millionen Zuschauer diesen Kult-Krimi. Es ist fast unmöglich, dass da keine Negativschlagzeilen folgen – und gänzlich undenkbar, dass alle Zuschauerinnen und Zuschauer damit glücklich sind. Darum freut es umso mehr, wenn der Grundtenor positiv ausfällt.

Die Premiere «Züri brännt» erhielt gute Noten, der zweite Fall, «Schoggiläbe», wurde stark kritisiert. Inwiefern hat dies die aktuelle Folge beeinflusst oder auch angeregt?
Man versucht immer aus früheren Erfolgen und Misserfolgen zu lernen. Aber was macht am Ende einen Erfolg aus? Das ist die Ein-Million-Dollar-Frage. Also konzentriert man sich darauf, das Beste aus seinem Auftrag zu machen. Natürlich ist bei uns der Druck nach «Schoggiläbe» gestiegen: Wird der dritte Fall ähnlich kritisiert wie der zweite oder kann er mit dem ersten mithalten? Als Filmemacher finde ich diese Vergleiche sinnlos, weil jeder Kriminalfall ein Prototyp ist. Trotzdem kann ich diese Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen. Man hat seine Lieblings-«Tatort»-Fälle und hofft, es würden weitere ähnliche folgen.

Auf Ihrer Homepage schreiben Sie, dass Contrast Film die Leidenschaft für den künstlerisch anspruchsvollen Film mit Wissen aus Marketing und Sozialwissenschaft verbinde. Welches Marketingwissen floss bei «Schattenkinder» ein?
«Schattenkinder» eignet sich nicht, um unsere Marketing-Inputs als Filmproduzenten zu erläutern. Erstens, weil die «Tatort»-Reihe bereits seit Jahrzehnten ein einzigartiges Erfolgsmodell in Sachen Marketing ist. Und zweitens, weil «Schattenkinder» eine Auftragsproduktion für das SRF und die ARD Degeto ist, die für das Marketing dieser «Tatort»-Folge verantwortlich sind. Gerne erläutere ich aber im Rahmen eines anderen Interviews, wie wir unsere Einflüsse als Ex-Werber bei der Produktion von Kinofilmen und Serien verwenden (lacht).

Apropos Marketing: Ich sah im Display des Autoradios kurz «Nokia 7.2» und «M-Budget Mobile». Wie viel Product Placement steckt in «Schattenkinder»?
Das einzige «Produkt», das wir gezielt platziert haben, ist die Stadt Zürich.

Sind Schweizer Filme ohne Produkteplatzierungen überhaupt finanzierbar?
Ja, das ist sogar die Regel. Product Placement ist ein Finanzierungsmodell, das aus der US-Filmindustrie kommt und in Europa immer noch sehr wenig und zurückhaltend eingesetzt wird.

«Rein faktisch spricht alles für das Filmgesetz»

Apropos Finanzierung von Schweizer Filmen. Voraussichtlich im Mai wird das Stimmvolk über die «Lex Netflix» befinden. Wie schlimm wäre es für das Schweizer Filmschaffen, wenn diese Vorlage abgelehnt wird?
Dieser Vorlage mit einem überzeugten Ja zuzustimmen ist wichtig, und zwar nicht nur für die Filmindustrie, sondern auch für die Wirtschaft und die Serienfans hier in der Schweiz. Rein faktisch spricht alles für das Filmgesetz. Die «Lex Netflix» wurde vom Nationalrat, vom Ständerat und vom Bundesrat empfohlen. Sie ist sinnvoll und vernünftig. Sie sorgt für Investitionen in der Schweiz statt Geldabfluss ins Ausland. Und sie hilft der Schweiz den Nachteil aufzuholen, den wir momentan gegenüber unseren Nachbarländern haben. So werden wir kompetitiver und machen bald selber Serien wie «Casa de Papel», «Dark» und «Suburra».

Zurück zum «Tatort»: Auch die nächste Folge, «Risiken mit Nebenwirkungen», hat Contrast Film produziert. Geben Sie uns einen kleinen Vorgeschmack?
Es gibt einen dubiosen Mordfall, zwei engagierte Kommissarinnen und eine Aufklärungsarbeit mit unerwarteten Wendungen (lacht). Darin involviert sind eine Familie mit einer gehbehinderten Tochter, eine aufstrebende Pharmafirma kurz vor einer wichtigen Medikamentenlancierung und eine Zürcher Kanzlei mit sauguten Anwälten.



«Tatort – Schattenkinder» wird am Sonntag, 13. März 2022, ab 20.05 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.



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