30.07.2020

Berichterstattung über Corona

«Fallzahlen muss man erklären»

Die Universität Zürich hat eine Studie zur Berichterstattung im ersten Halbjahr 2020 herausgegeben. Franziska Oehmer, Coautorin der Studie, spricht über zu wenig Expertinnen, zu viele Mediziner und mehr Perspektive in den Redaktionen.
Berichterstattung über Corona: «Fallzahlen muss man erklären»
«Funktionierende Meinungsbildungsprozesse – gerade in Krisenzeiten – benötigen einen guten Journalismus, und der ist einfach nicht ohne entsprechende finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen zu haben», sagt Oehmer im Gespräch. (Bild: zVg.)
von Loric Lehmann

Frau Oehmer, Sie waren Coautorin der Studie des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich. Ein Resultat war, dass sich kurz vor und bei Beginn des Lockdowns 70 Prozent der Berichterstattung um Covid-19 drehten. Ist Ihnen ein ähnliches Ereignis mit so einer Resonanz bekannt?
Meines Wissens nicht. Wir haben ja den Vergleich mit der Klimadebatte gemacht, das auch ein sehr dominantes Thema 2019 war. Hier wurden aber nicht annähernd solche Werte erreicht. Wobei man einschränkend sagen muss, dass wir erhoben haben, in wie vielen Beiträgen mindestens eine Referenz zu «Corona» oder «Covid» enthalten ist. Das heisst nicht, dass sich die Texte auch zwingend schwerpunktmässig mit dem Virus auseinandersetzen mussten. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass Covid-19 oder Corona auch ein alle gesellschaftlichen Teilbereiche umfassendes Thema war – insofern ist diese riesige Resonanz auch nachvollziehbar. Innerhalb der Bevölkerung bestand zudem auch ein immenses Informationsbedürfnis, das durch die Medien befriedigt werden musste.

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In der vorhergehenden Grafik sieht man, wie nach dem Peak Mitte März die Beiträge mit der Nennung von Corona stetig abnahmen – obwohl die Pandemie ja nach wie vor bei uns aktuell ist. Warum wird also weniger berichtet?
Hierfür gibt es mehrere mögliche Ursachen: Erstens korreliert das Ausmass der Berichterstattung, vor allem bis zum Lockdown, mit den berichteten Fallzahlen des BAG. Je höher die Fallzahlen wurden, desto grösser auch der Anstieg des Berichterstattungsvolumens. Mit dem Abflachen der Kurve trat auch das Bedürfnis, darüber zu berichten, wieder etwas in den Hintergrund.

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Und zweitens?
Weiter zeigen unsere Daten «nur», wie hoch der Anteil der Beiträge an der Gesamtberichterstattung war, der mindestens eine Erwähnung der Begriffe «Corona» oder «Covid» enthielt. Es ist also durchaus auch möglich, dass sich auch in den Zeiten mit sehr hohen Anteilswerten zahlreiche Beiträge befanden, die die Virus-Pandemie lediglich zur Kontextualisierung oder Referenz enthielten à la «Auch während Corona wird Sport getrieben». Solche Bezüge nehmen natürlich über den Zeitverlauf ab. Ausserdem spielt ein Gewöhnungseffekt vermutlich auch eine Rolle.

In der Studie wurde auch aufgezeigt, dass als Experten vor allem auf Epidemiologen und Virologen zurückgegriffen wurde. Vinzenz Wyss hatte dies schon Anfang April in einem Interview kritisiert. Ihre Studie zeigt nun, dass sich seit damals nicht wirklich etwas geändert hat. Können Sie sich erklären, warum nur Mediziner als Experten herbeigezogen werden?
Unsere Studie gibt nur Auskunft über die Berichterstattung selbst und damit über das «wie» und nicht über das «warum». Ich kann daher nur Mutmassungen anstellen, weshalb weiterhin Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus diesem Bereich dominieren. Mir leuchtet ein, dass beim Thema Corona vor allem Epidemiologen und Virologen befragt werden, weil natürlich immer Fragen zur Übertragung, zum Schutz und zum Entwicklungsstand von Impfungen oder Antikörpertests von Relevanz sind. Da muss man auch zwingend Expertinnen und Experten aus diesem Bereich zu Rate ziehen. Sie hatten damit auch einfach den grössten Nachrichtenwert. Nichtsdestotrotz teilen wir die Kritik: Gerade weil Corona alle gesellschaftlichen Teilbereiche umfasst, wäre es schön gewesen, auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anderer Disziplinen zu Wort kommen zu lassen.

«Etablierte Expertennetze sind häufig männlich geprägt.»


Zum Beispiel?
Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler, die eine spezifische Einordnung aus juristischer Sicht bspielsweise zum Thema Homeoffice machen. Oder Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die mögliche Auswirkungen für die Gesellschaft kommentieren. Solche Aspekte, die über diesen rein gesundheitlichen Einordnungen hinausgehen, wurden wenig von wissenschaftlicher Seite beleuchtet.

Unter diesen 30 Experten waren nur zwei Frauen. Können Sie dazu eine Einschätzung geben?
Wir wissen aus vergangener Forschung, dass man als Journalistin und Journalist auf ein spezifisches Netz an Expertinnen und Experten zurückgreift. Erst recht, wenn man schnell reagieren muss. Diese etablierten Expertennetze sind tatsächlich häufig männlich geprägt. Nichtsdestotrotz hat es möglicherweise auch etwas damit zu tun, dass viele Frauen auch eher zurückhaltender sind, sich medial darzustellen.

Was könnten noch Gründe sein?
Sicherlich ist in diesen verschiedenen wissenschaftlichen Räten auch der Frauenanteil in der Regel eher unterrepräsentiert, und das spiegelt sich dann auch einfach in der Medienberichterstattung wider. Ich sehe da gar nicht zwingend nur eine Schuld beim Journalisten oder bei der Journalistin, die der Diversität bei diesem Thema möglicherweise zu wenig Beachtung geschenkt haben. Hier spielen auch noch weitere Faktoren eine Rolle, die es ebenfalls zu analysieren und zu hinterfragen gilt.

«Die Kurzarbeit hat nicht geholfen, über das blosse Vermelden von Ereignissen in einem Stakkato-Takt hinauszugehen.»


Sie hatten auch moniert, dass zu oft nur Informationen vermittelt werden und zu wenig Einordnung in der Berichterstattung stattfindet. Kann es sein, dass viele Journalistinnen und Journalisten mit der Thematik überfordert waren oder auch die Kurzarbeit in den Medienhäusern eine Rolle spielte?
Wir stellen fest, dass sich die Corona-Berichterstattung nur durch sehr wenige Interpretationsbeiträge auszeichnet, die Hintergrundinformationen liefern und über das einfache Vermelden von Ereignissen hinausgehen. Dies ist, wenig überraschend, vor allem bei Boulevard- und Pendlermedien der Fall, die medientypspezifisch eher viele Kurzmeldungen enthalten. Über die Ursachen kann man zu diesem Zeitpunkt nur spekulieren: Wir wissen aus vergangener Forschung, dass finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen einen Einfluss darauf haben, wie stark Hintergrundinformationen und Einordnungen in den Berichten vermittelt werden können. Und da hat sicherlich die Kurzarbeit nicht geholfen, über das blosse Vermelden von Ereignissen in einem Stakkato-Takt hinauszugehen.

In der Studie heisst es, oftmals seien nur Zahlen vermittelt worden, ohne diese einzuordnen. Gerade die Datenjournalismus-Teams in den Redaktionen hatten ja während der Krise ihre Sternstunden.
Absolut. Einzelne Redaktionen haben im Umgang mit Zahlen und Statistiken auch sehr gut gearbeitet. Gerade Datenjournalistinnen und -journalisten haben unter diesen Bedingungen eine sehr anerkennenswerte Leistung vollbracht. Ganz generell und mit Blick auf die gesamte Berichterstattung beobachteten wir jedoch überwiegend einen wenig einordnenden Umgang mit Zahlen und Statistiken. Gerade im Zusammenhang mit den berichteten Fallzahlen, Todesraten und sogenannten Reproduktionszahlen wären hier verstärkte Einordnungen und Erklärungen, beispielsweise auch zu den unterschiedlichen Zahlen vom BAG, vom Zürcher Gesundheitsamt vom Johns Hopkins Institut wünschenswert.

Fahren Sie fort.
Hier ist es immer wichtig, dass man nicht einfach nur eine Zahl berichtet, sondern, dass eine Form von Kontextualisierung für den Leser und die Leserin stattfindet, dass er oder sie diese Zahlen auch einordnen und verstehen kann. Wir beobachteten, dass Zahlen verwendet, aber nicht eingeordnet werden. Und das finden wir falsch: Wenn man Zahlen wiedergibt, muss man sie in irgendeiner Form auch erklären können.

Sie und Ihre Kollegen hatten ja der Berichterstattung ein relativ gutes Zeugnis ausgestellt. Jedoch schreiben Sie im Fazit, dass der Journalismus «mehr Ressourcen und andere Strukturen» brauche, um zu funktionieren. Was genau meinen Sie damit?
Funktionierende Meinungsbildungsprozesse – gerade in Krisenzeiten – benötigen einen guten Journalismus, und der ist einfach nicht ohne entsprechende finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen zu haben.

Und das fehlt im Schweizer Journalismus?
Wichtig ist natürlich, dass verschiedene (Fach-)Journalistinnen und Journalisten an einem Thema arbeiten, um für eine Perspektiven-Vielfalt sorgen zu können. Denn verschiedene Journalistinnen und Journalisten haben auch ein spezifisches Netzwerk und unterschiedliche Perspektiven, Kompetenzen, Spezialisierungen und Herangehensweisen. So kann beispielsweise auch vermieden werden, dass nur die immer gleichen Expertinnen und Experten zu Wort kommen. Dafür müssen, und da wiederhole ich mich gern, Journalistinnen und Journalisten auch die zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen haben, um recherchieren und sich Fachwissen aneignen zu können. Dann kann man Einordnungen liefern, sich mit verschiedenen Positionen auseinandersetzen und verstehen, was das für Zahlen sind, woher diese kommen und was diese bedeuten.



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Kommentare

  • Inge Hess, 31.07.2020 18:14 Uhr
    In einer Demokratie erfüllen Medien grundlegende Funktionen. Sie sollen das Volk umfassend und vielfältig informieren, dadurch zur Meinungsbildung beitragen. Unabhängig und unvoreingenommen sollen sie als "4. Gewalt" die Mächtigen kontrollieren. Die Medien haben total versagt. Sie wurden zu Hofberichterstatter des Bundesrats. Mit Fake-Horrobildern und Horrozahlen wurde jede halbe Stunde Angst und Panik verbreitet. Kritische Professoren und Ärzte wurden durch Löschung ihrer Videos auf Youtube mundtot gemacht. Das ist auch heute noch so. Sie wollen ungedingt die Panik hochhalten, damit damit sie uns alle impfen können mit einem im Eilverfahren hergestellten, genbasierten Impfstoff, der unser Erbgut verändert. Keiner kennt die Risiken. Kein Medium klärt auf.
  • Victor Brunner, 30.07.2020 11:57 Uhr
    Viele JournalistenInnen waren total überfordert, mangels Wissen Corona einzuordnen. Noch heute werden die "Fallzahlen" des BAG kommentarlos publiziert. Steigen die Fallzahlen wird bereits von der 2. Welle geschrieben obwohl die erste wahrscheinlich noch nicht vorbei ist. Corona wurde nicht als Virus bearbeitet sondern als Hype. Grund dafür dürfte sein dass bei Wissenschaft und Foschung bei den grossen Medien, TA, NZZ, massiv abgebaut wurde zugunsten von Gesellschaftsthemen die wenige wirklich interessieren. Auch die Studie ist nur noch ein unnötiger Aufguss, kommt sie doch zu spät um Klarheit zu schaffen. Immerhin hat sie Leute beschäftigt und in Arbeit gehalten. Also mehr Beschäftigungstherapie denn Hilfe zum einordnen.
  • Ueli Custer, 30.07.2020 07:22 Uhr
    Nach wie vor publizieren die Medien die Fallzahlen als Indikator der Entwicklung. Aber weder die Anzahl der Tests noch die Voraussetzungen dafür (Wer wurde getestet?) werden publiziert. Deshalb sind die Fallzahlen praktisch ohne Aussage. Aber sämtliche Medien wollen das entweder nicht einsehen oder es ist ihnen egal.
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