Nadine Sommerhalder, haben Sie gerne die Fäden in der Hand?
Wenn ich nicht gerne die Fäden in der Hand hätte, wäre ich im falschen Job.
Eines Ihrer liebsten Hobbys ist das Häkeln. Inwiefern werden nun Ihre persönlichen Interessen auf Watson einfliessen?
Was ich vom Häkeln gelernt habe, ist, dass man aus einem Faden sehr viele verschiedene Sachen machen kann. Das ist eine Art Zutat. Auch im Journalismus stehen jeweils gewisse Zutaten zur Verfügung. Was man aus diesen kocht, muss ich jetzt zusammen mit meinem Team herausfinden.
Aber es wird nun keine Häkeltipps geben auf watson.ch?
Das schliesse ich nicht aus, ist aber ganz zuunterst auf meiner Prioritätenliste (lacht).
Sie sind seit rund 100 Tagen Chefredaktorin (persoenlich.com berichtete). Wie wurden Sie Anfang Juli empfangen?
Ich bin sehr herzlich und wohlwollend empfangen worden. Wir haben ein durchmischtes Team im Alter von 22 bis 70, alle Generationen sind vertreten. Es war sehr berührend zu sehen, wie ich von allen mit offenen Armen empfangen wurde. Das gegenseitige Interesse ist gross und der Austausch rege.
Und Ihr Chef, Maurice Thiriet, der einst Chefredaktor war und heute CEO ist: Lässt er Sie arbeiten, ohne sich einzumischen?
Ich habe das grosse Privileg, dass mein Vorgänger noch hier ist und ich ihn jederzeit um Rat fragen kann. Maurice hat das Team geprägt und auf den Stand gebracht, wo es jetzt ist. Ich darf eine funktionierende Redaktion übernehmen. Meine Herausforderung wird sein, wie wir uns nun weiterentwickeln werden. Maurice hat sich frischen Wind gewünscht und das lässt er auch zu.
Die ersten 100 Tage dienen meist der Bestandesaufnahme. Wie steht es um Watson?
Ich habe an meinem allerersten Arbeitstag hier verkündet, dass ich mit jeder und jedem Einzelnen, der bei mir angegliedert ist, einen Kaffee trinken will. Ich habe also 64 bilaterale Kaffeegespräche durchgeführt. Das war die beste Entscheidung, weil ich so das Team kennenlernen und von jedem Einzelnen hören konnte, was gut läuft und wo es allenfalls noch Potenzial gibt. Wir haben ein Watson, das personell wahnsinnig gut aufgestellt. Nun müssen wir uns aber Gedanken machen, wie wir uns fit machen für die Zukunft.
«Ich habe noch klarere Kommunikationswege geschaffen»
Und wie macht sich Watson fit für die Zukunft? Wie ich vernommen habe, haben Sie bereits Veränderungen vorgenommen.
Ich habe zwei Veränderungen vorgenommen. Erstens habe ich noch klarere Kommunikationswege geschaffen. Ich habe dafür gesorgt, dass jedes Ressort einen Team Lead hat, sodass alle einen klaren Ansprechpartner haben. Bei einzelnen Ressorts war dies noch nicht der Fall. Das erleichtert auch mir die Arbeit, wenn die Leute zuerst zu ihren Team Leads gehen, bevor alle zu mir kommen. Und die zweite grosse Änderung: Wir werden auf den 1. Januar ein Creative Lab schaffen. Kreativität wird bei uns grossgeschrieben – und dem wollen wir auch mehr Raum geben.
Was macht das Creative Lab?
Das Creative Lab wird sich in erster Linie um Videokonzepte kümmern. Der bisherige Videochef Nico Franzoni wird ab 1. Januar Creative Lab Manager und das Ganze aufbauen. Jeder Einzelne von Watson hat einen, wie ich es nenne, Nerd Skill. Die einen interessieren sich für den Eurovision Song Contest, andere für das Häkeln und wieder andere für die Geschichte von Ägypten. Nico kennt alle Leute hier sehr gut und weiss genau, wer was mitbringt. So kann er ein gutes Brainstorming-Team zusammenstellen und grossartige Konzepte kreieren.
Und was ist das Ziel?
Kreativität soll bei uns nicht nebenbei im Alltag passieren – so im Stil: Hey, wir brauchen noch ein Konzept für diesen oder jenen Kunden. Wir haben mit «Sponsored Video» ein junges Produkt, das bereits sehr gefragt ist. Wir wollen dem die nötige Aufmerksamkeit schenken und künftig «watson-igere» Konzepte abliefern, um nahe an unserer DNA zu sein.
Also fliesst die Kreativität des Creative Lab vor allem in Sponsored Content ein – oder auch in den Journalismus?
In alles. Im Bereich Video gibt es bei uns drei Säulen: Es gibt die sogenannten Newsvideos, das sind die viralen Videos, die täglich erscheinen und zu einem guten Newsportal dazugehören. Dann haben wir die Eigenproduktionen wie «Wein doch!» oder den «Fragenbot». Und als dritte Säule gibt es «Sponsored Video», bei denen wir Kundenumsetzungen machen, aber alles mit klaren Leitplanken. Wir haben ein redaktionelles Videoteam, das in Absprache mit den Kunden solche Videos umsetzt. Mit dem Creative Lab wollen wir sicherstellen, dass wir Videos produzieren, die wir auch ohne einen Sponsor im Rücken machen würden.
«Ich habe einen Leitspruch: Trust the process»
Laut Mediapulse Online Data zählt watson.ch im laufenden Jahr durchschnittlich rund eine halbe Million Visits pro Tag. Tendenz: stagnierend. Sind Sie damit zufrieden?
Wir hatten in den letzten zehn Jahren ein starkes Wachstum. Immer, wenn man neu im Markt ist, hat man extreme Wachstumsraten. Es ist normal, dass es nach einer gewissen Zeit nicht mehr die gleichen Zuwachsraten gibt. Das macht mir also keine Sorgen. Ich habe einen Leitspruch: Trust the process. Wenn man ein Ziel vor Augen hat, dieses Ziel gut kommuniziert und weiss, für was man als Marke steht, dann darf man auf genau auf diesen Prozess vertrauen.
Für was steht denn die Marke Watson heute? Ich habe den Eindruck, dass sich das Portal seit dem Start Anfang 2014 verändert hat. Früher nahm ich es als Spassportal mit einer Portion News wahr. Heute bin ich mir nicht ganz sicher, was mir angepriesen werden soll.
Wir sind das einzige Newsportal, welches das Gesamtangebot hat. Auch hier gibt es ein Drei-Säulen-Programm. Die erste Säule sind die News. Wenn man diese als Onlinenewsplattform nicht anbieten würde, wäre etwas falsch. News sind unser Grundangebot. Als zweite Säule haben wir die Unterhaltung, die bei uns sehr wichtig ist. Und drittens bietet unser Debattenteam Hintergrund und Analysen. In diesem Dreierpaket bietet das niemand sonst an.
Sie kommen von den elektronischen Medien, hatten Stationen bei den Radios Zürisee und 24, bei TeleZüri und zuletzt Blick TV. Wie passt Ihr Werdegang zu einem Onlineportal wie Watson?
Ich bin die sogenannte trimediale Journalistin (lacht). Ich finde schön, dass man die Rolle einer Chefredaktorin oder eines Chefredaktors heutzutage neu denken darf. Man muss nicht mehr der harte Politjournalist sein mit dem grossen Namen, der bereits drei Journalistenpreise abgeräumt hat. Sondern man hat verstanden, dass man als Chefredaktor oder Chefredaktorin auch sehr stark Manager:in ist. Ich schätze, dass ich zu etwa 90 Prozent mit Teambuilding beschäftigt bin. In dieser Position muss man Menschen mögen und sich mit ihnen auseinandersetzen wollen. Das macht mir sehr viel Freude – und deshalb bin ich an der richtigen Position.
Wie haben Sie sich die Führungsqualitäten angeeignet?
Beim Beobachten von Menschen (lacht). Vieles von dem, wie ich mit meinem Team umgehe, kommt von der Motivation heraus, dass ich es je nach bisherigen Chefs genau gleich machen will oder eben andersherum. Ich frage mich jeweils, was in diesem Moment als Mitarbeiter oder Mitarbeiterin mein Bedürfnis wäre – und aus diesem Motiv heraus handle ich.
«Ja, das war ein Sprung ins kalte Wasser»
Man kann aber schon festhalten: Sie haben von 0 auf 64 Angestellte praktisch einen Kaltstart hingelegt.
Bei Radio 24 hatte ich als leitende Produzentin ein kleines Team mit zwei Leuten. Das ist mit dem jetzigen Team natürlich nicht vergleichbar. Ja, das war ein Sprung ins kalte Wasser. Wenn man viel Empathie mitbringt, sich für Menschen interessiert und ein offenes Ohr hat, dann kann das gut kommen. Oder andersherum gesagt: Nur weil jemand schon viel Führungserfahrung hat, heisst das nicht, dass es gut kommt.
Viele meinen, Radio- und TV-Menschen hätten noch nie eine Zeile Text geschrieben. Ist Ihnen dieses Vorurteil auch schon begegnet?
So konkret hat mir das noch niemand vorgehalten. Ich denke aber, manche haben eine falsche Vorstellung von Radio- und Fernsehjournalisten. Niemand schreibt so viel am Tag wie Radiojournalisten (lacht). Als Radiojournalist schreibt man stündlich etwa 15 Nachrichten. Man ist Allrounder, ist sehr gewohnt, schnell Entscheidungen zu treffen, Alternativen zu bieten und umzustellen. Dieses schnelle Denken, das ich im Radiohandwerk gelernt habe, hilft mir jetzt extrem.
Und nicht zu vergessen: das Storytelling …
… und zwar sehr ausgeprägt. Beim Radio hat man viel weniger Zeit, um das Zielpublikum von einer Idee zu überzeugen. Man kann beim Radio bis heute auch nicht zurückspulen. Man hat also nur eine Chance, um etwas verständlich auszudrücken. Diese klare Kommunikation ist mir bis heute erhalten geblieben. Das ist mir ein grosses Anliegen und dies will ich auch bei Watson etablieren.
Und weil Sie von Radio und TV kommen: Wird es künftig vermehrt Podcasts und Videoformate geben? Bei Blick TV betreuten Sie zuletzt als Projektleiterin neue Formate.
Natürlich werde ich mich im Videobereich einbringen. Es ist aber nicht meine Funktion, auf Watson nur noch Podcasts und Videos anzubieten. Mein Auftrag ist es ganz konkret, ein Redaktionskonzept zu entwickeln, wie wir uns für die Zukunft aufstellen – und daran arbeite ich jetzt.
Können Sie bereits erste Resultate verraten, wo die Reise hingehen soll?
Für Resultate ist es noch zu früh. Was ich aber sagen kann: Aus den bilateralen Gesprächen haben wir Erkenntnisse gewonnen, wo wir das grösste Potenzial haben. Momentan machen wir Workshops mit allen Ressorts. Es soll nicht meine alleinige Entscheidung sein, wie es am Ende aussieht, sondern ich muss schauen, welche Strukturen ich dem Team bieten kann, damit sie ihren Job gut machen können. Dieser Austausch macht sehr viel Spass.
CH Media hat diesen Frühling die Mehrheit an Watson übernommen. Steht nun bald ein Umzug nach Aarau oder Zürich Nord bevor?
Von Umzugsplänen weiss ich nichts. Vorerst werden wir sicher in Zürich West bleiben. Alles andere müssten Sie mit Michael Wanner besprechen (lacht).
«Wenn ich nach zwei Jahren ein Burnout habe, dann haben wir als Watson verloren»
Sie arbeiten in einem 80-Prozent-Pensum. Vor Ihrem Stellenantritt sagten Sie mir, dass Ihnen Ihr freier Familientag heilig ist. Wie gut können Sie sich abgrenzen?
Sehr gut. Ich bin vermutlich die erste Chefredaktorin eines Major-Newsunternehmens, die Teilzeit arbeitet. In den ersten drei Monaten war dies mein Hauptthema, diese Grenzen zu setzen. Ich bin der Überzeugung, wenn das Team merkt, dass man mit 100 Prozent Commitment dabei ist, immer da ist, sich interessiert für sie und das Produkt, ist das gut machbar. Entscheiden wird es sich aber erst in ein, zwei Jahren. Wenn ich nach zwei Jahren einen Burn-out habe, dann haben wir als Watson verloren – und als Gesellschaft auch. Wenn es aber jemand schaffen muss, dann ist es Watson, weil wir für eine progressive Politik stehen. Vereinbarkeit ist mir sehr wichtig, ich will auch Botschafterin dafür sein. Ich hatte diese Vorbilder nicht, als ich jung war.
Und wie grenzen Sie sich an Ihrem Familientag ab?
Ich habe vor meinem Stellenantritt sehr klar abgegrenzt, was ich bieten kann und was nicht. Ich muss mich auch stark auf meine eigenen Aussagen verlassen. Wenn ich jetzt meine Grenzen überschreite, dann muss ich mich selbst an der Nase nehmen. Ein konkretes Beispiel: Ich nehme an einem freien Tag meinen Laptop normalerweise nicht nach Hause. Und falls doch, benutze ich diesen am Abend nicht – ausser es wäre etwas Ultradringendes wie beispielsweise in den letzten Tagen Israel. Was nicht heute Priorität hat, verschiebe oder delegiere ich.
Sie lassen den Laptop im Geschäft, hängen dafür an Ihrem Familientag dauernd am Smartphone?
Ich bin sicher immer erreichbar, das bringt der Job mit sich. Klar werde ich auch ab und zu über mein Pensum hinaus arbeiten, aber es darf nicht die Regel sein. Dazu brauche ich die Unterstützung der Geschäftsleitung und des Teams. Und die habe ich. Anders würde es nicht funktionieren.
Sie klicken auch nicht die Watson-App an, um zu kontrollieren, was Ihr Team macht?
Ich bin gar kein Fan von Micromanagement. Ich bin aber immer noch eine Person, die sich gerne über die Weltlage informiert. Deshalb gehe ich auch an meinem Familientag auf Watson, aber als Userin.
«Der erste Griff am Morgen geht zur Kaffeemaschine und dann zum Radio»
Wie informieren Sie sich sonst? Wie ist Ihr Medienverhalten?
Querbeet, mal so, mal so. Ich höre immer noch viel Radio. Der erste Griff am Morgen geht zur Kaffeemaschine und dann zum Radio. Online informiere ich mich beispielsweise bei Blick, oft aber auch bei der Berliner Zeitung. Die haben teilweise ziemlich coole Geschichten, von denen ich mich gerne inspirieren lasse. Und ich bin ein grosser Fernsehfan und schaue natürlich immer gerne die «Tagesschau».
Beim Fernsehkonsum sind Sie also newsorientiert – oder wenden Sie ebenfalls ein Drei-Säulen-Programm aus News, Unterhaltung und Debatte an?
Ja, das kann man so sagen. Nebst vielen Newssendungen liebe ich Dokumentationen in allen Formen und Farben. Zur Unterhaltung schaue ich «Unter uns», seit ich 15 Jahre alt bin. Ich habe keine Folge davon verpasst. Das ist meine Berieselung. Beim Häkeln brauche ich Sendungen, bei denen ich die Personen bereits kenne.
Und zum Häkeln kommen Sie tatsächlich noch?
Ja (lacht). Jeder hat seinen Ausgleich. Andere machen Sport oder gehen angeln. Ich häkle und kann dabei total gut abschalten.