21.01.2019

SRF

«Pierre Maudet wirkt müde, auch unsicherer denn je»

Es ist das Top-Thema in Genf: die Gratis-Reise des FDP-Politikers nach Abu Dhabi und deren Folgen. Marc Meschenmoser berichtet an vorderster Front über den Fall. Im Interview spricht der SRF-Korrespondent über Lügenkonstrukte, den medialen Röstigraben und «Le Matin».
SRF: «Pierre Maudet wirkt müde, auch unsicherer denn je»
Marc Meschenmoser ist seit Sommer 2017 Westschweiz-Korrespondent des SRF, vorher arbeitete er bei der «Rundschau». (Bild: SRF)
von Edith Hollenstein

Herr Meschenmoser, am Mittwoch strahlte «Schweiz aktuell» Ihr Exklusivinterview mit Pierre Maudet aus. Wie kam es dazu?
Ich habe seit September letzten Jahres immer wieder versucht, ein grösseres Interview mit Pierre Maudet zu realisieren. Während die Einvernahme der Staatsanwaltschaft lief, war dies extrem schwierig. Pierre Maudet lehnte mehrere Anfragen während Wochen ab. Der Zufall half: Ende November traf ich den Staatsrat zufällig in der Genfer Altstadt bei Dreharbeiten auf der Strasse und sprach ihn nochmals direkt an. Da stellte er mir erstmals ein längeres Interview in Aussicht. Nach einigen weiteren Telefonaten und Mails hat es dann diesen Mittwoch geklappt. Dass dieses Interview gerade in dieser heissen Phase stattfand, war auch Glück.

Maudet bekräftig darin, erst zurückzutreten zu wollen, wenn er verurteilt worden ist. Das ist nicht neu, sondern das sagte er bereits an der Parteiversammlung. Was sonst ist aus Ihrer Sicht an Maudets Aussagen bemerkenswert?
Maudets Plädoyer um Vergebung. Er sagte, dass sich ein Politiker vorbildlich zu verhalten habe, dass dies aber nicht gleichzusetzen sei mit fehlerfrei. Und Maudet fügte an, dass er seine Fehler eingesehen habe und man möge ihm doch jetzt verzeihen und ihn weiterarbeiten lassen.

Sollte die Öffentlichkeit das akzeptieren oder liegen solche Vergehen, für die sich ein Politiker entschuldigt, aus Ihrer Sicht nicht drin?
Ich masse mir da kein Urteil an, diese Frage müssen letztlich die Wähler beantworten. Ich beobachte einfach, dass Pierre Maudet im Laufe der vergangenen Monate wiederholt erst unter grossem Druck kommuniziert und scheibchenweise zugegeben hat, was Investigativjournalisten ihm vorgeworfen haben. Hätte er im Sommer von sich aus die Wahrheit auf den Tisch gelegt, statt sich in einem Lügenkonstrukt zu verstricken, hätte der Fall Maudet nie solche Dimensionen angenommen.

«Pierre Maudet ist im Überlebensmodus»

Als Zuschauerin habe ich den Eindruck, dass Sie der Meinung sind, Pierre Maudet müsste längst zurücktreten. Stimmt das oder was ist Ihre Meinung zum Fall?
Ich berichte, was passiert und ordne als Korrespondent die Geschehnisse ein. Meine persönliche Meinung spielt da keine Rolle.

Sie haben wiederholt und nah über den Fall berichtet. Wie haben Sie Pierre Maudet in diesen ganzen Monaten erlebt?
Ich beobachte den Absturz eines politischen Überfliegers und erinnere mich, wie Pierre Maudet letzten Mai mit dem besten Resultat in der Geschichte Genfs in den Staatsrat gewählt wurde. Er wurde damals von allen gefeiert, galt weitherum als bester Repräsentant der FDP in der Romandie und Wahlkampflokomotive in Genf. Seither hat sich alles verändert. Pierre Maudet selbst hat mir im Interview auf meine Frage, ob er sich unantastbar gefühlt habe, geantwortet: «Ja, wahrscheinlich schon.»

Wie hat er sich verändert?
Pierre Maudet ist im Überlebensmodus und dies bereits seit mehr als vier Monaten. Während dieser Zeit wurde aus seiner verheimlichten, geschenkten Luxusreise nach Abu Dhabi mit jeder neuen Enthüllung die «Affaire Maudet». Aus dem siegesbewussten, erfolgreichsten Politiker der Metropole Genf wurde ein Überlebenskämpfer in eigener Sache. Diese Monate andauernde Extrembelastung hat Spuren bei Pierre Maudet hinterlassen. Er wirkt bei unserem Interviewtermin auf mich müde, auch unsicherer denn je – aber weiterhin kämpferisch.

Pierre Maudet hat verschiedentlich versucht, Recherchen zu stoppen etwa bei der SRG, so dass eine RTS-Journalistin vorübergehend nicht mehr berichtet hat. Und gegen Tamedia hat er Klage eingereicht. Wie erleben Sie ihn im Umgang mit Journalisten?
Ich kann nur für mich selbst sprechen: Ich erlebte bisher keine Druckversuche und den Umgang bisher stets als respektvoll, selbst wenn ich mehrmals in Interviews Maudet mit unangenehmen Fragen oder ihn im September mit einem möglichen Rücktritt konfrontierte. Auch für mein jüngstes Interview gab es keinerlei Einschränkungen oder Fragen, die für ihn Tabu gewesen wären. Sonst hätte ich darauf verzichtet.

«Die Doppeladler-Debatte war in der Westschweiz nicht so heftig»

Warum hat Maudet weiterhin so starken Rückhalt von der Basis der Genfer FDP?
In der Deutschschweiz mag dies überraschen, doch hier in Genf haben viele Parteimitglieder nicht vergessen, dass es Pierre Maudet mit einer unermüdlichen Energie in den letzten zwölf Jahren war, der die Genfer FDP zu neuen Höhenflügen gebracht hat. Er hat politische Ideen, Visionen für den Staat und die Gesellschaft – auch unkonventionelle. Maudet hat beispielsweise massgeblich Allianzen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern geschaffen und dazu beigetragen, dass rund 2000 Sans Papiers in Genf einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten haben. Sein Schicksal ist, das sein politisches Programm momentan niemanden mehr interessiert.

Der Wirbel dürfte viel grösser sein als in der Deutschschweiz.
Ja, das Interesse ist hier in der Westschweiz sehr gross. Es ist die Geschichte eines Politikers, eines Ausnahmetalentes, der sehr hoch stieg und jetzt umso tiefer fällt. Dies interessiert. Zahlreiche Westschweizer Journalisten wundern sich allerdings, dass das Interesse auch in der Deutschschweiz so gross ist und diese Affäre längst nicht mehr unter die Rubrik «Genfer Lokalpolitik» fällt.

Woran liegt das? Oder anders gefragt: Welche Themen erreichen die Deutschschweiz und welche bleiben in der Westschweiz?
Ich erinnere mich, dass beispielsweise die Doppeladler-Debatte über die Fussball-Nati letzten Sommer in der Westschweiz nie mit solcher Heftigkeit debattiert wurde wie in der Deutschschweiz. Ein Thema, das in der Westschweiz der Bevölkerung unter den Nägeln brennt, sind die ständig steigenden Krankenkassenprämien. Einige aktuelle politischen Initiativen und Ideen zum Thema kommen aus der Westschweiz und haben die Deutschschweiz erreicht. Manchmal staune ich, wie klein grosse Deutschschweizer Themen abseits von Politik und Wirtschaft hier sind: So war etwa der Tod von «Polo National» in der Romandie nur eine kurze Notiz. Einem breiten Publikum war er offenbar schlicht nicht bekannt.

«Ich verstehe meine Arbeit auch ein wenig als Brückenbauer»

Sie sind seit Sommer 2017 Westschweiz-Korrespondent des SRF. Wie gut müssen Sie Französisch können für diesen Job?
Unser Kamerateam und die Techniker, mit denen ich täglich zusammenarbeite, sprechen kein Wort Deutsch und auch die Recherchen und Interviews führe ich auf Französisch. Offen gesagt: Als ich den Job antrat, dachte ich, mein Französisch sei ganz passabel, um dann nach einem Monat zu merken, es fehlen doch immer noch einige Worte. Ich lerne also täglich – doch die Romands nehmen das sehr locker.

Was haben Sie in Ihrer Zeit in Genf gelernt über die Funktionsweise der Schweizer Medien, der sprachübergreifenden Debatten in diesem Land?
Von Genf aus betrachtet ist Zürich sehr weit weg: mentalitätsmässig als auch vom Umstand, dass sich die Leute hier eher kulturell nach Frankreich orientieren.

Was, welcher Mechanismus, ist wichtig, dass Themen sprachübergreifend wahrgenommen werden?
Medien, die landesübergreifend berichten. Als Korrespondent hier verstehe ich meine Arbeit auch ein wenig als Brückenbauer in die deutsche Schweiz für mehr gegenseitiges Verständnis.

Was ist Ihrer Meinung nach elementar für einen möglichst kleinen Röstigraben?
Persönlich denke ich, wäre schon viel gewonnen für die bessere Verständigung, wenn alle Deutschschweizer Schülerinnen und Schüler einen Monat in die Westschweiz für einen Austausch kommen. Die Romandie hat so viel zu bieten, nebst der Sprache: eine andere Kultur, wunderbare Landschaften und herzliche, offene Menschen. Und umgekehrt natürlich auch.

«In der öffentlichen Debatte ist ‹le matin online sehr wenig präsent»

Sie haben beim grossen Stellenabbau von «Le Matin» an vorderster Front recherchiert und veröffentlicht, wann die Printausgabe eingestellt wird. Inwiefern haben Sie noch Kontakt zu den Ex-Angestellten?
Ich habe weiterhin Kontakt mit den ehemaligen Angestellten. 41 ehemalige «Le Matin»-Leute warten seit ihrer Entlassung im Sommer auf einen Sozialplan. Bisher konnten sich Tamedia und die Gewerkschaften nicht einigen, bis auf wenigstens ein Schiedsgericht. Die Zeit drängt. Denn die Betroffenen erleben diese Situation als sehr schwierig – nach teils 20 Jahren Arbeit für «Le Matin».

Wird «Le Matin» als reines Online-Medium überleben oder denken Sie, dass die aktuelle Redaktion in den nächsten Monaten ebenfalls schrumpfen wird?
Medienbeobachter in der Romandie sind skeptisch. In der öffentlichen Debatte ist «le matin online» sehr wenig präsent mit eigenen Themen oder gar Rechercheprimeurs. Ich wünsche mir allerdings für die Kolleginnen und Kollegen, dass die Redaktion nicht weiter schrumpft – die Pressekonzentration in der Westschweiz hat schon heute ein besorgniserregendes Ausmass erreicht, wie wohl nirgends in der deutschen Schweiz.



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