01.11.2022

20 Minuten

«Social Media First stärkt die Demokratie»

Ende 2021 hat 20 Minuten eine Social-Media-First-Strategie lanciert. Désirée Pomper, stv. Chefredaktorin und Leiterin Story und Videoformate, zieht eine positive Zwischenbilanz, sagt, weshalb das Gratismedium einen Fokus auf TikTok legt – und sie spricht über die Fög-Studie.
20 Minuten: «Social Media First stärkt die Demokratie»
«Indem Nachrichtenportale dorthin gehen, wo die jungen Menschen sind, nehmen sie sie ernst», sagt Désirée Pomper, Leiterin Story und Videoformate sowie stellvertretende Chefredaktorin von 20 Minuten. (Bild: 20 Minuten)
von Tim Frei

Frau Pomper*, mögen Sie sich daran erinnern, als Sie erstmals News über Social Media konsumiert haben?
Ich konsumiere schon seit einigen Jahren News über Facebook, wo ich zahlreichen Nachrichtenportalen aus aller Welt folge und noch immer regelmässig auf überraschende Storys stosse. Ein Schlüsselmoment war aber, als ich vor bald drei Jahren das Nachrichtenprodukt des französischen Medienunternehmens Loopsider auf Instagram entdeckte.

Inwiefern?
Newscontent wird dort in Form von Videos speziell für diese Plattform aufbereitet. Ich war so fasziniert von diesem Modell, dass ich kurzerhand mit dem Geschäftsführer Kontakt aufnahm. Nach diesem Gespräch im Februar 2020 war für mich klar, was für eine grosse Rolle die sozialen Plattformen für News und Newsanbieter spielen. Und spätestens als der Ukrainekrieg ausbrach, war allen bewusst, wie wichtig auch TikTok als Nachrichtenquelle geworden war.

Wie meinen Sie das?
Ich erinnere mich daran, wie ich bei Kriegsausbruch nächtelang mit Abertausenden anderen Menschen Liveübertragungen von Ukrainerinnen und Ukrainern mitverfolgte, die sich in den U-Bahnstationen in Sicherheit gebracht hatten. Plötzlich waren Aussenstehende mit ihrem Smartphone dabei, als der Krieg in Europa ausbrach. Das war eine völlig neue Dimension.

Im Dezember 2021 haben Sie bei 20 Minuten die Social-Media-First-Strategie eingeführt – mit einem Fokus auf TikTok. Gab es neben Loopsider weitere Vorzeigebeispiele?
Ja, zum Beispiel Now This oder Brut. Aber auch das spanische Nachrichtenportal Ac2alityespanol mit knapp 4 Millionen Followern auf TikTok oder die «Tagesschau» der deutschen ARD. Bei Letzterer beeindruckte mich, dass das Medium trotz seinem traditionellen Hintergrund keine Berührungsängste mit TikTok hatte und es schaffte, authentisch zu bleiben. Indem Nachrichtenportale dorthin gehen, wo die jungen Menschen sind, nehmen sie sie ernst.

Wird dies von Schweizer Verlagen zu wenig getan?
Das muss jeder Verlag für sich selbst entscheiden. Für die Medienvielfalt auf Social Media wäre es auf jeden Fall begrüssenswert.

«Würde der Newskonsum auf Social Media berücksichtigt, dürfte der Newskonsum höher als bei sieben Minuten liegen»

Gerade einmal sieben Minuten News pro Tag konsumieren junge Erwachsene auf dem Smartphone: Hat Sie dieser Befund des Jahrbuchs Qualität der Medien des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Universität Zürich schockiert?
Das Fög hat in seiner Studie den Newskonsum junger Erwachsenen auf den sozialen Plattformen wie Instagram oder TikTok nicht berücksichtigt. Dabei zeigt eine Studie der Agentur Jim & Jim, wie wichtig soziale Medien für den Nachrichtenkonsum sind: So geben beispielsweise 61 Prozent der jungen Erwachsenen an, einmal oder mehrmals täglich auf Instagram Nachrichten zu konsumieren. Wir können also davon ausgehen, dass der Newskonsum höher liegt als bei sieben Minuten, würde der Newskonsum auf Social Media berücksichtigt. Unser Fazit nach zehn Monaten Social Media First lautet: Natürlich interessieren sich junge Menschen für Nachrichten, sofern sie zielgruppen- und plattformgerecht aufbereitet sind. Sonst wären wir auch kaum so schnell gewachsen.

Sollte das Fög die Social-Media-Nutzung demnach künftig berücksichtigen?
Ja, der Newskonsum auf den sozialen Plattformen sollte meines Erachtens berücksichtigt werden, wenn man ein möglichst realitätsgetreues Bild des Newskonsums junger Menschen zeichnen will – sofern das denn möglich ist. Leider sperren sich die Plattformen dagegen, die Daten herauszugeben. Aber es gäbe sicher andere Wege – etwa eine Zusammenarbeit mit Medienhäusern. 

20 Minuten wäre demnach offen, seine Daten mit dem Fög zu teilen?
Wir könnten uns das gut vorstellen. 

«Dank 20 Minuten weiss ich, was in den sozialen Medien stimmt, und was nicht»: Dieses Feedback haben Sie von einer Testgruppe nach rund zehn Monaten Social-Media-First-Strategie erhalten. Für viele Mediennutzer dürfte das nicht jene Qualität sein, die sie als Erstes mit 20 Minuten in Verbindung bringen würden. Hand aufs Herz: Waren auch Sie überrascht von dieser Rückmeldung?
Es hat mich insofern überrascht, als dass mir nicht von Anfang an bewusst war, wie gross die Orientierungslosigkeit junger Userinnen und Usern in den sozialen Medien ist. Nehmen wir den Ukrainekrieg: Es gibt in der Berichterstattung keine Anti-Fake-News-Garantie. Man weiss nicht, wem man glauben kann und wem nicht. Das bedeutet: Der Wert der Glaubwürdigkeit in den sozialen Medien wächst mit jedem Tag, an dem dort noch mehr unverifizierter Content verbreitet wird. Das wiederum ist aber auch eine Chance für Nachrichtenportale, die dank der journalistischen Arbeit über dieses Gut verfügen. Weil das Bedürfnis junger Menschen nach dem Aufdecken von Fakenews so gross ist, haben wir vor einem Monat auf TikTok einen Fact-Checking-Kanal eröffnet. Etwas möchte ich noch festhalten.

@20min_factcheck Dieses Foto der Segnung einer russichen Rakete ist eigentlich aus 2015! #factcheck #russia #news #20min Originalton - 20min_factcheck

Bitte.
Dass 20 Minuten in der jungen Zielgruppe als glaubwürdig wahrgenommen wird, bestärkt unsere Redaktion in unserer täglichen Arbeit. Auch wenn es gewisse Kritikerinnen und Kritiker noch immer nicht glauben und ich langsam müde werde, das immer wieder klarzustellen: Ja, bei 20 Minuten arbeiten Dutzende talentierte, leidenschaftliche Journalistinnen und Journalisten, die die richtigen Fragen stellen, sorgfältig recherchieren, Fakten sicherstellen und zudem mühelos die ganze journalistische Plattform-Klaviatur beherrschen: Print, Online, Video und Social Media.

«Dank Social Media First konnten wir 20 Minuten in der jungen Zielgruppe als Nachrichtenportal wieder sichtbar machen»

Wie gut tut dieses positive Feedback der jungen Zielgruppe?
Es bestärkt uns in der Sinnhaftigkeit unserer Arbeit. Viele junge Bürgerinnen und Bürger konsumieren keine klassischen Medien mehr. Indem wir nun verifizierte Nachrichten in den sozialen Medien verbreiten oder Geschehnisse erklären, tragen wir dazu bei, dass auch diese Menschen richtig informiert sind – auch über nationale politische Ereignisse. Insofern stärken wir mit Social Media First unsere direkte Demokratie.

Fög-Direktor Mark Eisenegger sagte in einem persoenlich.com-Interview mit Fokus auf TikTok: «Ich betrachte es skeptisch, ob journalistische Medien Nicht-Journalisten einsetzen sollen». Können Sie versichern, dass 20 Minuten auf TikTok nur Medienschaffende einsetzt?
Die News-Beiträge von 20 Minuten auf Social Media werden von der Redaktion erstellt, erfüllen die journalistischen Grundprinzipien und werden von 20-Minuten-Hosts präsentiert.

Weshalb legen Sie bei der Social-Media-First-Strategie einen Fokus auf TikTok?
20 Minuten spielt ihren Content auf Facebook, Instagram, YouTube und teilweise auch auf Snapchat aus. Den Fokus legen wir aber aus zwei Gründen auf TikTok: Erstens ist TikTok die am schnellsten wachsende Plattform der jungen Zielgruppe. Zweitens: Anders als bei Facebook und Instagram entscheidet auf TikTok nicht die Anzahl Follower darüber, wie viele Menschen ein Beitrag erreicht, sondern das Engagement-Potenzial eines Beitrags – also wie oft ein Video gesehen, gelikt, geteilt und kommentiert wird. Der Erfolg eines Beitrags definiert sich in erster Linie über den Content und nicht über die Anzahl Follower.

Inwiefern hat sich diese Strategie bewährt?
Dank Social Media First konnten wir 20 Minuten in der jungen Zielgruppe als Nachrichtenportal wieder sichtbar machen. Nun gilt es, die User wieder auf unsere App zu bringen.

Wie wollen Sie das schaffen?
Indem wir auf den sozialen Plattformen zum Beispiel Eigengeschichten anteasern und dabei auf unsere App verweisen. Dabei stehen wir noch am Anfang, haben aber bereits einen Versuch unternommen: So haben wir das etwa bei unserer investigativen Videoreportage über Hausangestellte im Libanon gemacht, die in fensterlosen Mini-Zimmern in Luxuswohnungen der Basler Stararchitekten Herzog & de Meuron leben. Der Teaser hat sicher auch zum Erfolg des Videos beigetragen: Es wurde auf unserer Seite inzwischen über 400'000-mal angeschaut.

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Vergangene Woche haben Sie am WebStage Masters betreffend dieser Strategie von einer Erfolgsstory gesprochen. Wie manifestiert sich das in den Zahlen?
Inzwischen haben wir über 460‘000 Follower auf TikTok und über 12 Millionen Likes auf TikTok in der Deutsch- und Westschweiz. Zudem sind wir seit April 2022 ununterbrochen auf Platz eins aller Schweizer Medienmarken im Storyclash-Ranking mit 3 Millionen Followern und 2,75 Millionen Interaktionen pro Monat im Schnitt. Das Storyclash-Ranking misst den Medienauftritt in Social Media anhand von Likes, Interactions und Engagements.

«Es wurde niemand dazu gezwungen, TikToks zu produzieren, wenn jemand keine Lust dazu hatte»

Markante Veränderungen in Medienhäusern sind nie einfach. Wie gross waren die internen Hürden der TikTok-Offensive?
Tief. Ich bin jetzt noch beeindruckt, wie schnell und reibungslos wir Social Media First umsetzen konnten – zu Beginn ohne zusätzliche Mitarbeitende, dafür mit begabten und intrinsisch motivierten Kolleginnen und Kollegen. Es wurde niemand dazu gezwungen, TikToks zu produzieren, wenn jemand keine Lust dazu hatte. Zentral war der Wissenstransfer von unserem Social-Media-Team unter Mattia Bütikofer hin zur Redaktion. Ausserdem wurden alle unsere Mitarbeitenden mittels obligatorischen Social-Media-Schulungen befähigt. Dass viele unserer jüngeren Mitarbeitenden mit Social Media aufgewachsen sind, hat den Move natürlich erleichtert.

Sie brauchten demnach wenig Überzeugungskraft?
Zumindest habe ich es so wahrgenommen. Ich glaube, es ist auch eine kulturelle Frage. Wir bei 20 Minuten haben schon einige Mindset Changes hinter uns: Von Print zu Online zu Video und nun eben zu Social Media. Meine Kolleginnen und Kollegen sind überdurchschnittlich innovationsfreudig und sehr agil im Denken und Handeln. Bei uns herrscht eine Let’s-do-it-Mentalität. Es ist grossartig, so zu arbeiten.

Was entgegnen Sie kritischen Stimmen, die Social-First-Strategie sei primär wegen dem Kommerzialisierungspotenzial lanciert worden?
Wir haben Social Media First lanciert, weil sich in den letzten Jahren immer mehr junge Leserinnen und Leser von 20 Minuten abgewendet haben. Dieser Entwicklung konnten wir nicht länger tatenlos zuschauen. Daran, dass wir nun in einem zweiten Schritt mit Hochdruck daran arbeiten, unser neues Angebot zu kommerzialisieren, sehe ich nichts Verwerfliches. Zeitungen verkaufen schliesslich auch Anzeigen. 

Der Instagram-Kanal des Bundesrats und der Social-Media-Ausbau um zehn Stellen ist vom Verband Schweizer Medien kritisiert worden (persoenlich.com berichtete). Die Sorge des VSM ist, dass die Kommunikation über soziale Medien zu einer Umgehung der klassischen Medien führe. Ist das eine unbegründete Befürchtung?
Wer von den jungen Bürgerinnen und Bürgern gehört werden will, sollte dorthin, wo sie ihre Zeit verbringen.

Zum Schluss: Hat es Sie nie gereizt, selbst ein TikTok-Video zu machen?
Natürlich. Ich bin allerdings kläglich gescheitert. Mein TikTok aus dem Vereina-Tunnel hat 411 Views erzielt, das andere – ein Schnee-TikTok – 758 Views. Das können ganz viele Leute tausendmal besser als ich.


*Désirée Pomper, Leiterin Story und Videoformate bei 20 Minuten, ist seit April 2021 stellvertretende Chefredaktorin beim Gratismedium. Die 38-Jährige ist seit 2009 für 20 Minuten in verschiedenen Funktionen tätig – darunter mehrere Jahre als Ressortleiterin Politik. 2007 schloss Pomper ihr Masterstudium in Internationalen Beziehungen in Genf ab, 2014 machte sie in den USA an der Columbia University eine Weiterbildung in Investigativjournalismus. Pomper entwickelte verschiedene Videoformate und produzierte 2022 gemeinsam mit Helena Müller den international prämierten Doku- und Kinofilm über Mädchenbeschneidung «Do You Remember Me?».



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