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Die Verletzbarkeit einer jungen Kandidatur

Louis Perron

Als Annalena Baerbock vor wenigen Wochen zur ersten Kanzlerkandidatin der Grünen nominiert wurde, war es die Krönung einer steilen Karriere. Die Medien waren voll des Lobes. Doch bald kehrte der Wind.

Seither wurde Baerbock beschuldigt, sie hätte ihren Lebenslauf beschönigt und vergessen, Nebeneinkünfte anzugeben. Die neuste Anschuldigung: Baerbock soll in ihrem Buch «Jetzt» plagiiert und abgeschrieben haben.

Ich möchte Annalena Baerbock in diesem Post weder angreifen noch verteidigen. Vielmehr möchte ich die Ereignisse der letzten Wochen rund um die Spitzenkandidatin der Grünen zum Anlass nehmen, einige grundsätzliche Gedanken zu formulieren.

Kandidatinnen und Kandidaten, die schnell ins nationale Rampenlicht kommen, sind besonders verletzbar. Je höher und schneller sie aufsteigen, desto mehr werden sie zur Zielscheibe. Angela Merkel, Gerhard Schröder und Helmut Kohl hatten jahrelang Zeit, um sich auf einen Wahlkampf vorzubereiten.

Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass die Grünen eine Chance haben, die Kanzlerin zu stellen? Entsprechend kurz war die Zeit für das, was man im US-Wahlkampfjargon «Vetting» nennt, das Abchecken einer Kandidatur auf mögliche Schwachstellen.

Kandidaten, die schnell ins Rampenlicht vorrücken, sind auch noch aus einem anderen Grund besonders verletzbar: Ihr Bild ist in der öffentlichen Meinung nicht definiert und ungefestigt. Wenn wir heute erfahren würden, dass Angela Merkel in ihrer Doktorarbeit geschummelt hätte, dann wäre das ein winzig kleiner Teil aller Informationen, die wir über die Kanzlerin besitzen.

Wir sehen sie seit mehr als sechzehn Jahren praktisch jeden Abend im Fernsehen. Wenn wir hingegen heute in Fokusgruppen durchschnittliche Wählerinnen und Wähler fragen würden, was sie über Annalena Baerbock wissen, dann repräsentierten die momentanen Anschuldigungen wohl mehr als die Hälfte der Informationen, die sie über sie besitzen.

Schliesslich zeigt der Fall Baerbock auch wieder einmal eindrücklich, wie schnell sich ein Medientrend ändern kann. Sicher gibt es Medien, die in der Tendenz eher links oder eher rechts ticken.

Aber darüber hinaus kann ein Medienhype schnell um 180 Grad drehen. So war es notabene die links-grüne Taz, die Baerbock aufforderte, die Kanzlerkandidatur aufzugeben.



Louis Perron ist promovierter Politologe, Politberater und Dozent für politisches Marketing an der Universität Zürich.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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Kommentare

  • Dieter Widmer, 12.07.2021 11:41 Uhr
    Ich habe noch selten einen so präzis zusammengefasste Analyse über eine politische Person gelesen. Gratulation! Die klugen Grünen hätten diese gefährlichen Fallstricke frühzeitig erkennen sollen. Normalerweise hätte ja ihr Co-Präsident Robert Habeck nominiert werden müssen, der politisch seit längerer Zeit gewieft unterwegs ist, schon Regierungserfahrung hat und Sympathien ins Unionslager besitzt. Aber es musste eine Frau sein, obschon Baerbock nie etwas Anderes als Luft der Grünen geatmet hat. Sie war direkt nach der Universität zu den Grünen gegangen und hat sich mit ihrer Bienenfleissigkeit hochgearbeitet. Dass die ausgefuchste alte Garde der Grünen auf diese Gefahr aufmerksam gemacht hat, kommt sie jetzt teuer zu stehen. Der Schaden ist da und ist kaum mehr zu beheben.
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