16.05.2023

Tamedia

«Der Qualitätsanspruch ist für mich die zentrale Richtschnur»

Seit zehn Wochen ist die bisherige Inlandchefin Raphaela Birrer Chefredaktorin der neuen Mantelredaktion Tages-Anzeiger. Wie hat sie sich eingelebt – und was bereits verändert? Erstmals stellt sie sich diesen Fragen. Die 40-Jährige über Priorisierung, Politik und Primeurs.
Tamedia: «Der Qualitätsanspruch ist für mich die zentrale Richtschnur»
«Auch in meiner neuen Funktion bleiben die Politik und das Bundeshaus sehr wichtig für mich», so Raphaela Birrer, Chefredaktorin Tages-Anzeiger. (Bild: Keystone/Gaëtan Bally)
von Christian Beck

Frau Birrer, seit gut zwei Monaten sind Sie Chefredaktorin der neuen Mantelredaktion Tages-Anzeiger. Zuvor waren Sie Inlandchefin. Was hat sich in dieser Zeit für Sie verändert?
Sehr viel – und gar nicht so viel zur gleichen Zeit. Viel, weil diverse neue Aufgaben dazugekommen sind, zum Beispiel die externe Repräsentation oder der intensive Austausch mit den zahlreichen Schnittstellen in unserem Verlag. Gar nicht so viel, weil ich die Redaktion und unser Haus nach elf Jahren bereits sehr gut kenne. Aus der neuen Perspektive sehe ich allerdings noch deutlicher, wie alle Rädchen täglich ineinandergreifen, um dem Publikum auf allen Kanälen hochwertige Publikationen zu bieten.

Sie erwähnen die externen Repräsentationen. Sie waren letzte Woche zum ersten Mal überhaupt am SwissMediaForum. Wie haben Sie diesen Kongress erlebt?
Das Forum ist eine wichtige Gelegenheit, sich über Neuerungen in der Branche auszutauschen. Es wird bei solchen Treffen stets klar, dass die grossen Schweizer Medienhäuser mit sehr ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Wie gewinnen wir neue Userinnen und User in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und halten die bestehenden? Wie wird sich die Arbeit der Redaktionen durch künstliche Intelligenz verändern? Wie geht es beim Leistungsschutzrecht weiter?

Alles Fragen, die auch bei Tamedia gestellt werden. Wie bekommen eigentlich die Mitarbeitenden die neue Chefredaktion zu spüren?
Spürbar sind sicher das Reformtempo und die konsequente Ausrichtung auf unsere digitalen Kanäle. Wir haben in mehreren parallel laufenden Projekten zahlreiche Neuerungen und Umstrukturierungen angestossen, die uns zu einer noch digitaleren Redaktion machen werden. So überarbeiten wir zum Beispiel unser Audio-Angebot oder stärken den Newsdesk. Dieser Fokus wirkt sich bereits heute unmittelbar auf den redaktionellen Alltag aus. Spürbar dürfte auch die offene, transparente Kommunikation sein, mit der wir die Redaktion über all diese Schritte informieren.

«Ich möchte, dass die Mitarbeitenden jeden Tag gerne und motiviert auf die Redaktion kommen»

Was sind die wichtigsten, vielleicht auch schwierigsten Entscheidungen, die Sie bisher treffen mussten?
Wichtig ist auf einer grossen Redaktion wie der unseren die Priorisierung. Es gibt überall viel zu tun, wir können nicht alles gleichzeitig lösen. Ich habe mich entschieden, zuerst in das redaktionelle Klima und in strukturelle Massnahmen zu investieren. Ich möchte, dass die Mitarbeitenden jeden Tag gerne und motiviert auf die Redaktion kommen. Dazu haben wir zum Beispiel den Austausch intensiviert. Und ich möchte, dass uns unsere Strukturen und Abläufe die publizistische Ausrichtung auf die Onlinekanäle optimal ermöglichen. Dazu überarbeiten wir beispielsweise die Jobprofile in der redaktionellen Steuerung und im Newsroom.

Zu Ihren Jobprofilen: Sie starteten bei Tamedia im Nachrichtenteam von tagesanzeiger.ch/newsnet und kletterten dann intern stets die Karriereleiter hoch: Bundeshausredaktion, Inlandchefin, Mitglied der Chefredaktion. Was nahmen Sie aus den verschiedenen Stationen mit?
Für meine heutige Funktion ist es von Vorteil, dass ich unterschiedliche Bereiche der Redaktion aus eigener Erfahrung kenne. Ich weiss, unter welchem Druck der Newsdesk arbeitet und was es braucht, damit wir auf der Newsschiene schnell sind. Ich kenne aus meiner Zeit in Bern im Bundeshaus die Situation und Bedürfnisse der Korrespondenten und weiss, wie wir zu politischen Primeurs kommen. Auch die Perspektiven und strategischen Überlegungen der Ressortleiter sind mir vertraut. Und schliesslich ist die Arbeit in einer Chefredaktion nicht neu für mich, das ermöglichte uns einen nahtlosen Start.

Sie haben den Job von Arthur Rutishauser übernommen und arbeiten jetzt noch mit ihm zusammen. Wie erleben Sie diese Zusammenarbeit?
Arthur und ich haben einen sehr konstruktiven Austausch. Wir haben journalistisch und menschlich stets gut zusammengearbeitet – daran hat sich nichts geändert.

Am 1. Oktober erhalten Sie mit Jessica Peppel-Schulz eine neue Chefin. Sie folgt als CEO auf Andreas Schaffner. Was für einen Eindruck haben Sie von ihr?
Jessica Peppel-Schulz kommt aus Deutschland zu uns, ich kenne sie noch nicht. Ich freue mich, sie bald kennenzulernen, und auf die künftige Zusammenarbeit mit ihr.

«Die Vorgänge beim Magazin haben sämtliche Tamedia-Teams stark beschäftigt»

Als Sie Ihre neue Funktion übernommen haben, war der Wirbel um die Sexismus- und Mobbingvorwürfe beim Magazin in vollem Gang. Wie war das für Sie?
Die Tage im Februar waren für viele in unserem Haus ein anspruchsvoller Moment. Die Vorgänge beim Magazin haben sämtliche Tamedia-Teams, nicht nur die Redaktionen, stark beschäftigt. Insofern war das eine unruhige Zeit.

Sie sitzen bereits seit Anfang 2022 in der Chefredaktion von Tamedia. Fühlen Sie sich mitverantwortlich, dass diesbezüglich nicht schneller und konsequenter gehandelt wurde?
Persönlich hatte ich keine Kenntnis über die Details des Falles. Tamedia erfuhr im Frühjahr 2021 von den Vorwürfen. Der Verlag prüfte diese zuerst intern. Es erwies sich, dass Aussage gegen Aussage stand. Daraufhin beauftragte Tamedia eine externe Anwaltskanzlei mit einer Untersuchung. Die Aufklärung hat einige Monate in Anspruch genommen.

Mitte April wurde bekannt, dass Tamedia Klage gegen den Spiegel einreicht. Haben Sie mitentschieden, dass geklagt werden soll?
Ich war nicht in den Entscheid involviert. Ich weiss, dass sich Tamedia nach sorgfältigem Abwägen entschieden hat, dass sie den am 4. Februar im Spiegel erschienenen Artikel «Ich auch» der Gastautorin Anuschka Roshani nicht so stehen lassen will. Vor allem die sowohl durch Text als auch Bilder gemachte Anspielung auf den Fall «Harvey Weinstein» ist aus Sicht von Tamedia persönlichkeitsverletzend. Deshalb wurde Klage eingereicht.

Sie werden auf der Redaktion sehr geschätzt, habe ich gehört. Ist dies ein Vorteil, damit die Redaktion wieder Vertrauen in die Führung gewinnt?
Das freut mich zu hören. Für mich sind Wertschätzung und Kooperation wichtige Führungsprinzipien. Ich bin überzeugt, dass diese Werte essenziell für ein gutes redaktionelles Klima sind.

Was unternehmen Sie persönlich, um die Arbeitskultur nachhaltig zu verbessern?
Ich investiere viel in den direkten Austausch mit allen Teams, in die Gesprächskultur und in den Zusammenhalt der Redaktion. Zudem ist es mir wichtig, dass alle Redaktionsmitglieder unsere publizistischen und ökonomischen Ziele kennen und teilen, damit wir gemeinsam daran arbeiten können.

Mit Ihrem Antritt als Chefredaktorin kam es auch zu strukturellen Veränderungen. Eine davon: Die bisherige Redaktion Tamedia heisst nun Redaktion Tages-Anzeiger. «Journalisten schätzen es, wenn sie eine publizistische Heimat haben», sagte Müller von Blumencron in einem persoenlich.com-Interview. Sind nach zwei Monaten bereits so was wie Heimatgefühle aufgekommen? Oder anders gefragt: Welche Früchte trägt die Reorganisation?
Das machte sich fast per sofort bemerkbar. Einige Redaktionsmitglieder hatten in den vergangenen Jahren Mühe, sich mit einer Mantelredaktion zu identifizieren, die keine eigene Publikation hatte. Die Anbindung des Mantels an die etablierte, starke Marke «Tages-Anzeiger» hat die Identifikation mit dem Produkt, für das wir arbeiten, bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verstärkt.

«Wir bieten nach wie vor dasselbe Angebot für alle»

Welche Rückmeldungen erhalten Sie aus den Redaktionen anderer Regionen wie Bern oder Basel? Wird akzeptiert, dass nun der Tages-Anzeiger das Flaggschiff ist?
An der Zusammenarbeit der Mantelredaktion mit unseren Partnern in Bern, Basel und Zürich hat sich nichts geändert. Wir bieten nach wie vor dasselbe Angebot für alle – der einzige Unterschied ist unser neuer alter Name. Insofern fallen die Reaktionen positiv aus.

Die Wahlen stehen an. Wie wird die Berichterstattung der Redaktion Tages-Anzeiger aussehen? Als ehemalige Inlandchefin dürften Sie besonders für Politik brennen.
Das stimmt: Auch in meiner neuen Funktion bleiben die Politik und das Bundeshaus sehr wichtig für mich. Aktuell gleisen wir unsere Wahlberichterstattung für den Herbst auf. Wir werden im Unterschied zu vor vier Jahren zusätzliche Formate, zum Beispiel im Audiobereich, etablieren und unsere Leserschaft nach den Sommerferien mit einem umfassenden Paket über Kandidaturen und Parteien informieren. Lassen Sie sich überraschen.

Sie sagten Anfang 2022 zu persoenlich.com: «Mir ist es ein grosses Anliegen, die Redaktion Tamedia mit hohem Qualitätsanspruch publizistisch weiterzuentwickeln, was die Leserorientierung und die Online-Ausrichtung betrifft.» Wie sehen Sie Ihre Rolle in der digitalen Weiterentwicklung der Tamedia-Medien?
Zunächst: Wer mich kennt, weiss, dass der Qualitätsanspruch für mich die zentrale Richtschnur ist. Ich möchte den Tagi konsequent als nationales Leitmedium im Qualitätsjournalismus positionieren. Das bedeutet: Wir recherchieren sorgfältig, kuratieren wertig und erzählen ansprechend – auf allen Kanälen. Unsere digitale DNA möchte ich mit diesem Anspruch weiterentwickeln und festigen. 

Tamedia soll die Kosten bis Ende 2023 weiter um 70 Millionen reduzieren. Zum Jahresende 2022 seien davon rund 65 Prozent erreicht, wurde im Rahmen der Jahresbilanz bekannt. Welche Sparvorgaben haben Sie vom Verwaltungsrat erhalten?
Die Zahlen waren zuletzt nicht positiv. Es ist kein Geheimnis, dass die finanzielle Bilanz für Tamedia zuletzt negativ ausgefallen ist. Der gestiegene Papierpreis und sinkende Einnahmen aus dem Werbemarkt haben das Ergebnis gedrückt. Zudem sind wir bei unseren digitalen Abonnements noch nicht dort, wo wir hinwollen. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Tamedia auch die Kostenseite im Blick behält.

Und welches persönliche Ziel haben Sie sich für 2023 gesetzt?
Ich möchte mehr Leserinnen und Leser erreichen, um unsere Marke zu stärken und zusätzliches Publikum an die Paywall zu bringen. Zudem ist es mir wichtig, dass wir mit gut recherchiertem Journalismus, spannenden Geschichten und serviceorientierten Zugängen unsere Abonnentinnen und Abonnenten zufriedenerstellen und ihre Nutzungsfrequenz auf unseren Sites erhöhen.



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